Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Ordner und Kisten herein. Sie gibt mir noch einen Bleistift für meine Aufzeichnungen, Kugelschreiber sind verboten, die wertvollen Dokumente könnten beschädigt werden.
Schnell finde ich das, was ich suche. Auf dem Deckel eines Pappkartons steht »Tagebücher A. de Q Grönland«, darin liegen 27 ausgefranste Notizbücher mit dunkelblauen und beigefarbenen Einbänden und kariertem Papier, etwas kleiner als Din A5, gekauft bei Chr. Nyborg-Lassen, 5 Gothersgade, Kopenhagen. »Finderlohn 5fr« steht auf der Umschlag-Innenseite über dem blauen Stempel »Schweizerische Grönland-Expedition 1
912«, bei manchen Heften sind es sogar »10 fr«. Ich habe nur ein paar Stunden Zeit, unmöglich kann ich alles lesen. Einige der Heftchen sind für mich nur flüchtig interessant, sie enthalten Hunderte Seiten mit Zahlenkolonnen zu Windgeschwindigkeiten, Temperaturen, Luftdruck, Höhenmetern und zurückgelegten Distanzen.
Doch ich entdecke auch Passagen, die später nie veröffentlicht wurden, aber andeuten, dass sich schon auf der Hinfahrt mit dem Schiff die ersten Konflikte anbahnten. So schreibt de Quervain am 12. April über den vorigen Tag: »Am Mittag musste ich Gaule ermuntern, sich nur wirklich an die mit so viel Selbstvertrauen in Zürich geplanten luftelektrischen Messungen heranzumachen, und die Zeit nicht bloß in idyllischem Vorlesen arm in arm mit Fick zuzubringen. Ich weiss ja, dass es auch bei gutem Befinden Selbstüberwindung kostet, auf dem Schiff an eine Sache heranzugehen. Aber er lächelte so überlegen, als ich ihn in Zürich darauf hinwies! Nun soll ers haben.«
Ein anderer Satz, den er an Zeltplatz 17 am 9. Juli vor dem Aufbruch zur nächsten Tagesetappe aufgeschrieben hat, gibt mir Rätsel auf, weil ein Wort der Sütterlinschrift kaum zu entziffern ist. Einigermaßen lesbar ist: »Ficks eisige ... geht mir auf die Nerven.« Ich würde viel darum geben, das fehlende Substantiv lesen zu können. Die erste Silbe scheint »Pfeif-« zu sein. Pfeiffuchserei? Pfeifsprechfonie? Pfeifsprechserei? Was muss der Expeditionsleiter auch so komplizierte Wörter verwenden! Ich mache ein Foto der Seite, um es später genauer unter die Lupe zu nehmen.
Andere Stellen beziehen sich auf seine Frau Elisabeth, die er erst 1911 geheiratet hatte, und zeigen einen de Quervain, den ich bislang noch nicht kennengelernt habe. Nicht den strengen Wissenschaftler, sondern den liebenden Ehemann: »Meine Frau, wie viel mehr bin ich Mensch,
bin ich überhaupt durch Dich – Findest Du dieses mir selbst Vorrechnen der Vorteile meines Verheiratetseins kindlich, oder gar klein und bedenklich. Das ist kein Vorrechnen, nein etwas ganz Unmittelbares; wenn ich sage ›meine Frau‹, so atme ich freier, stehe gerade da, und fühle mich glücklicher.« Ein paar Absätze später reflektiert er über seine eigenen Schwächen: »Mußte Dir nicht manchmal bange werden? Dieser A. de Q., an dem doch gewisse harte, und wohl nicht vermutete Kanten zum Vorschein kommen; diese absolute Art!«
In dem Nachlass befindet sich auch eine ganze Sammlung martialischer Zeichnungen. Die Darstellungen zeigen Inuit in Kamiker-Stiefeln, die einander mit Hundepeitschen schlagen oder mit Speeren abstechen.
Und Dutzende Rechnungen, fast jedes Ausrüstungsstück der Expedition lässt sich samt genauem Preis belegen. Die Schlitten haben 165 Norwegische Kronen gekostet, die Schlafsäcke »von Herbstgeschlachteten Rennthierfellen« 50 Kronen pro Stück, das 12 Millimeter dicke Gletscherseil aus italienischem Hanf 60 Franken. 624
Dosen Alpenmilch gab es gratis, wie ein Beleg der Berneralpen-Milchgesellchaft zeigt, genauso wie eine Kiste »Dr. Mampes Bittere Tropfen, Marke Elefant« – die wurden allerdings wegen der beiden Antialkoholiker im Team aus Grönland ungeöffnet wieder zurückgesandt, wie ich schon aus de Quervains Buch erfahren habe.
Im nächsten Ordner befinden sich zwei Nachrufe auf de Quervain, eine Einladung zu einem Lichtbildvortrag des Antarktisforschers Ernest Shackleton bei der »Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin« mit anschließendem Festmahl, zwei Briefe des deutschen Arktisforschers Alfred Wegener und ein Grönländisch-Lehrbuch, das dem Leser verspricht, in 100 Stunden die Sprache lernen zu können.
Jedes Dokument ist wie ein Puzzleteil, zusammen ergibt sich ein immer klareres Bild davon, was vor einem Jahrhundert passiert ist. Noch niemand hat sich bislang die Mühe gemacht, den Nachlass von de Quervain systematisch zu erforschen.
Natürlich
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