Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
überraschend griffigen Untergrund laufen.
Zum Zeitvertreib erfinde ich eigene Wörter für unterschiedliche Eissorten. Zunächst laufen wir über Glasscherbeneis: kaum rutschig, sehr scharfe kleine Stückchen, helles Knackgeräusch bei jedem Schritt. Später kommen wir auf Knäckebroteis, das kenne ich schon von meinem Inlandeis-Ausflug im vorherigen Jahr: etwas weicher, ein dunkles, irgendwie knuspriges Knacken.
Mein bisheriges Lieblingseis ist das hellblaue Überraschungseis. Das sieht ziemlich flüssig aus, man kann jedoch problemlos darauf gehen, ohne einzusinken – ein Gefühl, als könnte man über Wasser laufen.
Leider gibt es jedoch auch reichlich echtes Wasser – immer wieder müssen wir kleine Flüsse queren, die in Mulden quer zu unserer Route verlaufen. Die hohe Kunst dabei ist, den Schub des Herunterfahrens für die Steigung auf der anderen Seite zu nutzen und dabei nicht die Schlittenfront mit Gewalt in das gegenüberliegende Eisufer zu knallen.
Ich bin nun sehr froh über jede Stunde, die ich in den vergangenen Monaten mit Krafttraining verbracht habe. Ohne diese Vorbereitung würde ich hier wohl schon nach einem oder zwei Kilometern schlappmachen. Doch so kann ich gut mit den anderen mithalten.
Wilfried guckt immer wieder auf sein knallgelbes GPS-Gerät und berichtet, wie weit wir schon gekommen sind. »
1,4 Kilometer«, »drei Kilometer«, »4,8 Kilometer«. Nach gut zehn Kilometern bauen wir unsere zwei Zelte auf, direkt an einem kleinen Eisbach. »Sonst haben wir immer nur so sechs Kilometer geschafft am ersten Tag«, sagt er fröhlich. Er ist hochzufrieden. »Ich sage es ja ungern, aber bisher stellt ihr euch alle gar nicht so schlecht an.« Zur Belohnung gibt es zum Abendessen einen Chili-con-Carne-Fertigmix (zu salzig, aber schmackhaft) und Pemmikan (zu viel Fett, aber hier draußen köstlich).
Viele Inlandeis-Durchquerer schummeln am Anfang ein wenig und lassen sich mit dem Hubschrauber auf etwa 1000 Höhenmeter fliegen. Warum sie das tun, wird uns am zweiten Marschtag klar. Wir geraten in ein Labyrinth aus Eishügeln, eine gigantische Buckelpiste aus drei bis acht Meter hohen Hindernissen. Ständig müssen wir Bäche queren, oft auch die Pulkas komplett abschnallen und zu viert über das Wasser wuchten.
Bei einer dieser Aktionen rutscht Wilfried aus und landet im Bach. »Nichts passiert, aber jetzt hab ich nasse Füße«, sagt er. Die nächsten Stunden bringen eine Zerreißprobe für Mensch und Material, die von derben Flüchen begleitet wird. Die Pulkas kippen immer wieder auf die Seite oder krachen gegen Wände.
Das machen sie nicht lange unbeschadet mit. Zuerst bricht an Jans Schlitten eine Metallummantelung. Auch bei Wilfrieds und meiner Pulka, die vor der Tour nagelneu waren, zeigen sich bald hässliche Knicke in der senfgelben Karbonhülle, beide an derselben Stelle, vorne links. Der Hersteller hatte uns zugesichert, besonders verstärktes Material zu liefern, in mir keimt nun der Verdacht, dass auf diese Verstärkung verzichtet wurde.
Wir entscheiden, ein Depot einzurichten. Jeder packt etwa 35 Kilo Ausrüstung in einen Rucksack und lässt ihn hier zurück, zuerst wollen wir die Pulkas aus der Buckelzone herausbringen und später den Rest holen. Mit weniger Gewicht ist der Materialverschleiß geringer, so unsere Hoffnung.
Nach zwei weiteren Kilometern wird das Gelände endlich flacher, und wir finden zwei Plätze, die ebenerdig genug für unsere Zelte sind. Dann müssen wir noch einmal zurück, um die Rucksäcke zu holen. Ohne GPS hätten wir sie in dem Eishügelgewirr niemals wiedergefunden. Sie sind so schwer, dass wir uns beim Aufsetzen gegenseitig helfen müssen. Der Weg zurück beschert uns zum Abschluss des Tages noch einmal eine echte Tortur. »Da weiß man erst, wie gut es ist, das Gewicht mit den Pulkas zu ziehen«, sagt ein verschwitzter Gregor, als wir endlich die Zelte erreichen. Er hat es besonders schwer mit dem Gepäck, weil er sich gleich am ersten Tag verhoben hat und jeden Meter mit Rückenschmerzen kämpft.
Wir hoffen, den schlimmsten Teil des Aufstiegs hinter uns zu haben. Doch über uns können wir schon weitere Buckel ausmachen. Und in der Nacht fängt es kräftig an zu regnen.
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GAULE, KARL GRANVILLE
Geboren am 12. Januar 1888 in Zürich.
Ältester Sohn des Medizinprofessors Dr. Justus Gaule. Einjähriger Wehrdienst im Jahr 1906 in Karlsruhe, zusammen mit Roderich Fick, mit dem er sich ein Zimmer teilte. Maschinenbau-Studium an der
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