Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Expeditionsgepäck auf zwei orangefarbenen Motorbooten. Um uns gebührend zu verabschieden, bietet die Tierwelt von Tasiilaq noch einmal alles auf: Hinter uns heulen und winseln die Hunde am Campingplatz, vor uns hebt sich die Rückenflosse eines Wals aus dem Wasser der Bucht.
Ich frage den Fahrer Vigo, wie er heute das Wetter einschätzt. »Noch höhere Wellen als gestern«, sagt er und lächelt. Kaum sind wir aus der Bucht heraus, wird klar, was er meinte. Die kleinen Neunsitzerboote krachen mit dem Bug ständig auf mächtige Brecher. Jan, der anfangs noch ganz vorne sitzt, hebt immer wieder ab und ist vermutlich schon nach wenigen Minuten kurz vor dem Bandscheibenvorfall.
Alles ist modern an dem Boot: der Motor, die Schwimmwesten, das GPS-Gerät am Lenkrad. Doch hinter Vigo entdecke ich in einem Gestänge am Heck zwei altmodische Harpunen aus Holz, die irgendwie nicht zu diesem Ensemble passen. Die sind für die Robbenjagd, die eine Spitze ist etwas stumpf und lang, die andere kurz und spitz.
Da sind sie wieder, die Harpunen. Die Inuitwaffen aus Opas Diele in Herrsching.
Fast auf den Tag genau vor 100 Jahren fuhr der die Strecke, die wir jetzt zurücklegen. Nur in die andere Richtung, und ohne die Hilfe von Motoren, sondern in einem Frauenboot mit Wänden aus Seehundleder.
Während ich meinen Gedanken nachhänge, wird der Nebel stärker und die Landschaft um uns immer märchenhafter. Eine ganz andere Eiswelt ist das als auf der Fahrt zum Rasmussen-Fjord, unwirklich, bedrohlich und wunderschön zugleich. Ab und zu tauchen riesige Eisberge aus dem Dunst auf. Wenn ein Sonnenstrahl zu ihnen durchdringt, sieht es so aus, als würden sie von innen leuchten. Manche sehen aus wie weiße Schlösser, andere erinnern an riesige Tiere oder scheinen Gesichter zu haben.
Plötzlich erscheint vor uns ein mächtiger Lichtbogen, wir fahren direkt darauf zu. Er wirkt wie ein Tor in eine andere Welt, wie das Portal zu unserem Abenteuer. Für einen Moment wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass mein Opa mich hier sehen könnte, zwischen den Eisbergen, die er so bewundert hat. Sein Leben lang hat er davon geträumt, ein zweites Mal nach Grönland zu kommen, er hat es nie wieder geschafft.
Ein massives Krachen unter mir reißt mich zurück in die Realität. Vigo macht abrupt den Motor aus, wir rattern über mehrere Eisschollen. Er sieht sich um, das zweite Boot ist noch da. Der Jäger gibt wieder Gas, in artistischen Kurven findet er trotz miserabler Sicht seinen Weg zwischen den weißen Riesen.
Nach etwa zwei Stunden Fahrt nähern wir uns einer Bucht, in der das Eis bis zum Wasser herunterreicht. Das ist unser Startpunkt Naqtivit, der etwa 50 Kilometer südlich vom Ziel der Route von 1912 liegt. Diese Abweichung erspart es uns, das Gepäck 800 Höhenmeter über Geröll und Steine zu schleppen.
Die Boote fahren an eine Landzunge mit schlammigem Untergrund, wir laden Gepäck und Pulkas aus. Ein ziemlicher Kraftakt, da wir die über zwei Meter langen Schlitten über die Frontfenster der Boote wuchten müssen. Vigo wünscht uns viel Glück, aber sein Blick sagt, dass er uns für verrückt hält. Er liebt die Fjorde, aber kein Inuit würde je freiwillig übers Inlandeis gehen, selbst wenn er nicht mehr an die Monster glaubt, die Timerseter und Erkiliker, die dort laut alten Überlieferungen hausen sollen. Weil es dort nichts zu jagen gibt. Weil dort die alten Holzharpunen nutzlos sind.
Kaum sind die Boote weg, zeigt die grönländische Natur, dass sie auch für unsere Ankunft ein besonderes Showelement vorbereitet hat: Ein riesiger Eisklumpen löst sich und stürzt mit einem Donnern ins Wasser, gerade noch kann ich meinen Pulkaschlitten vor der Flutwelle retten.
Während Bergtouren oder Wanderungen meist in leichtem Gelände anfangen, bevor es anstrengend wird, zählt bei einer Inlandeisbegehung der Anfang zu den größten Herausforderungen – weil es steil bergauf geht und die Schlitten noch extrem schwer sind. Ab heute wird das Gepäck pro Kopf jeden Tag ein Kilogramm leichter, weil wir Nahrung und Kochbenzin verbrauchen.
Im Moment ist die Gewichtsverteilung äußerst unvorteilhaft: Ich bringe 80 Kilo auf die Waage, meine Pulka 120. Wer hier eigentlich an wem zieht, das müssen wir noch ausfechten. Zunächst sind wir bei strahlendem Sonnenschein ohne Skier unterwegs, die wären selbst mit Fellen auf dem Eishang keine Hilfe. Meine Skischuhe haben hervorragende Sohlen, deshalb kann ich ohne Steigeisen gut auf dem
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