Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Rasmussen-Gletscher zeichnet sich als dünner weißer Streifen am Horizont ab. Als wir näher kommen, wächst er zu einer imposanten Mauer aus zerklüftetem Eis heran, die sich auf der glatten Wasseroberfläche spiegelt. Vigo, der Steuermann, den ich schon vom letzten Jahr kenne, grauer Overall, rote Mütze, macht etwa 100 Meter davor den Motor aus. Näher heranfahren wäre zu gefährlich, da der Gletscher plötzlich kalben kann. Konzentriert beobachtet der Inuit das Eis. Wenn ein großer Brocken herabstürzt, müsste er sofort Gas geben.
Deutlich ist unten am Gletschereis die Gezeitenlinie zu erkennen, eine Einbuchtung dort, wo das Wasser am Eis nagt. Etwa 30 Meter hoch ist die Wand: »Wie der Perito Moreno in Patagonien in klein«, sagt Wilfried. Wie der Ekip Sermia aus dem Schwarz-Weiß-Video von 1912, denke ich. Wilfried schätzt, dass sich der Gletscher mit etwa drei Meter pro Tag in den Fjord bewegt. Eine unaufhörliche Eisbergproduktion, ein weißer Lindwurm, der seine Ableger zum Sterben ins Wasser schickt. Ab und zu rumpelt mit einem dumpfen Grollen ein Wandstück in den Fjord.
Wir landen am östlichen Ufer, um eine Pause zu machen. Ein paar Zelte stehen dort. Ein Mann in abgewetzten Klamotten läuft aus einem Camp auf mich zu. Er kommt mir bekannt vor, ich ihm offenbar auch: »Stephan, bist du das?«, ruft er. Wäre dies ein Fantasyroman, würde sich nun ein Dialog von der Art entspannen: »Hallo, Opa. Wurde ja auch Zeit«, er würde sagen: »Ich habe uns ein Hühnli geschossen«, und dann würden wir Pemmikansuppe mit Schneehuhn löffeln, leicht schrotiger Beigeschmack, und er würde mir alles erzählen, von Hü und Q., vom Eis und den Hunden.
Doch das hier ist kein Roman, deshalb kann jemand mit diesem Outfit – Piratentuch auf dem Kopf, Shorts über einer Art grauweiß karierter Schlafanzughose, ausgelatschte uralte Wanderschuhe – eigentlich nur einer sein: »Patrick?«, rufe ich zurück. Tatsächlich. Patrick Schoengruber, unser Reiseleiter von 2011. Heute Morgen ist er mit einer Gruppe hier angekommen. Die Welt ist klein, und die Welt von Ostgrönland ganz besonders.
Wir gehen ein bisschen am Hang spazieren und plaudern. Er berichtet, dass er bald zum zweiten Mal Vater wird. »Da könnte ich jetzt unmöglich aufs Inlandeis steigen. Aber toll, dass du das wirklich machst!« Wir würden am liebsten stundenlang quatschen, aber meine Bootsgruppe wartet schon am Ufer. Wir verabschieden uns. »Dann bis nächstes Jahr irgendwo in Grönland!«, sagt Patrick.
Auf dem Rückweg in unser Camp besichtigen wir eine ehemalige US-Militärbasis, die 1942 angelegt und bereits zum Ende des Zweiten Weltkriegs wieder eingestellt wurde. Tausende verrostete Ölfässer liegen dort verstreut wie die Überbleibsel eines Dominospiels für Riesen. Mitten in der ansonsten unberührten Naturlandschaft künden sie davon, dass hier ein kleiner Schotterpisten-Landeplatz für Kampfflieger unterhalten wurde. Der Ort war strategisch günstig, mitten im Nirgendwo und auf halber Strecke zwischen den USA und Europa. Monströs ragen verwitterte Gebäudereste und Maschinen aus dem Boden, 70 Jahre alte Kettenfahrzeuge, Schneepflüge und Lastwagen stehen herum, man hat sich nicht mal die Mühe gemacht, sie vor dem Abzug ordentlich nebeneinanderzuparken. »Hier sind ja mehr Autos als in ganz Tasiilaq«, witzelt ein Tourteilnehmer aus Bayern, wahrscheinlich hat er recht.
Mit dem Besuch der Fliegerbasis verfestigt sich die Erkenntnis, die sich schon bei den Reiseberichten der Quervain-Enkel aufgedrängt hatte: In Grönland bleiben die Spuren der Vergangenheit erheblich länger erhalten als anderswo.
26. Juni 1912
Grönland, Inlandeis, Tagebuch von Roderich Fick
Die folgenden Tage geraten wir immer mehr in Spaltengebiete. Sie sind leicht mit Schnee überdeckt, manchmal die breiteren auch offen und blau und grundlos. Man muss jetzt sehr aufpassen und die Spalten möglichst senkrecht überfahren. Die Hunde können gewöhnlich über die hartgefrorene Schicht ohne durchzubrechen drüber. Der Schlitten auch; aber ich selber breche oft 20 mal auf einer Tagesreise bis zum Bauch durch und werde vom Schlitten, an dessen Steuerbügel ich mich festhalte, rausgezogen.
Die Schlitten fallen auch immer noch bei den Unebenheiten und Buckeln und sind dabei durch das Eis, das wir seit dem Seeeinbruch mitschleppen in den Brotbüchsen, sehr viel schwerer wie früher. Einmal ist beim Überqueren einer Spalte mein Schlitten nicht gut senkrecht gekommen und
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