Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Rettung bietet als frühere Epochen.
Hätte dagegen bei den Expeditionsteilnehmern von 1912 das Material komplett versagt, hätte dies tatsächlich ihr Ende bedeutet. Dennoch mussten sie mit erheblich einfacherer Ausrüstung auskommen. Mit dem Kompass bestimmten sie die Richtung, mithilfe von einem Messrad und von Ein-Meter-Markierungen auf de Quervains Skiern die Distanz. Er musste sich Mühe geben, immer genau einen Meter pro Schritt zurückzulegen, auf einem Schrittzähler konnte er dann die Strecke ablesen. Ortsbestimmung und Orientierung waren damals noch Handwerk und Rechenkunst. Wir dagegen haben GPS-Empfänger am Handgelenk und wissen bei jedem Schritt auf zwei Meter genau, wo wir sind. Wilfried tauft die Koordinate des Camps auf den Namen »Pulkatod«. »Es ist einfach nur bitter, wenn das an so was scheitert«, sagt Gregor.
Was sind nun unsere Optionen? Wir stehen vor den Schlitten und gehen die Möglichkeiten durch. Sachlich und ruhig, niemand wird laut. Vielleicht können wir es selber noch nicht glauben, vielleicht hat uns der Schock sediert.
»Wir könnten Peroni per Satellitentelefon fragen, ob er uns zwei Ersatzpulkas per Helikopter schickt«, sagt Wilfried. Geschätzter Kostenpunkt 5000 Euro. Ich finde den Gedanken verlockend, aber Gregor hält wenig davon: »Selbst wenn er zwei brauchbare hat – das würde zu lange dauern, bis die hier sind, und dann reicht die Zeit nicht mehr, um rechtzeitig für den Rückflug an der Westküste zu sein«, sagt er. »Ich möchte mal was ganz Abwegiges vorschlagen, nur, damit wir auch diese Option durchdacht haben«, sagt Jan. Es sei doch möglich, dass zwei von uns die ganze Route machen, der Expeditionsleiter und der Ahnenforscher, und die anderen beiden sich ausfliegen lassen. Drei Gegenstimmen, abgelehnt.
Schließlich einigen wir uns darauf, Lebensmittel für zwei Wochen wegzuschmeißen und mit weniger Gewicht zu versuchen, wenigstens noch einige Tagesetappen auf dem Eis zu schaffen. Bis Camp 9 oder Camp 10 wollen wir kommen. Von dort aus werden wir auf meinen Wunsch einen anderen Rückweg wählen: in Richtung Hundefjord, genau auf den letzten Etappen der Route von 1912. Historisch gesehen könnte das erheblich interessanter werden als unsere ursprünglich geplante Querung nach Westen – weil zwischen Ficks Bjerg, Hoessly Bjerg und Gaule Bjerg möglicherweise noch mehr Spuren von der Expedition vor 100 Jahren zu entdecken sind.
Einen Großteil ihrer Ausrüstung haben die Expeditionsteilnehmer damals am Hundefjord zurückgelassen, steht in Opas Tagebuch, inklusive einer ziemlich detaillierten Ortsbeschreibung. Wir werden uns mal auf die Suche machen – wer weiß, vielleicht finden wir ja einen brauchbaren Schlitten.
8. Juli 1912
Grönland, Inlandeis
Am Morgen nach dem Sturm sind die Hunde weg. Den ganzen Sonntag haben die vier Männer im Schlafsack verbracht, während draußen die Naturgewalten wüteten. Mit 72 km/h blies es den Schnee waagerecht durch die Luft, das Zelt ächzte und knatterte bei Windstärke acht aus Südost. Drinnen muss es trotzdem vergleichsweise bequem gewesen sein, die Abenteurer gönnten sich einen freien Tag und lasen Schopenhauer, Kant und Hume. Dabei vergaßen sie offenbar ihre Tiere. »Bei Schopenhauer erquickte uns der rabiate Stil seiner Polemik, und wer gerade dran war, konnte sich nicht versagen, gewisse Kraftstellen laut zum besten zu geben, und der grimmige Sturm heulte dazu eine passende Begleitung«, schreibt de Quervain.
Am Morgen nach dem Lesetag ist es draußen ruhig. Zu ruhig. Ist da nicht doch ein Winseln zu hören? Vor dem Zelteingang hat sich eine meterhohe Wächte gebildet, von den Schlitten ist nichts zu sehen. Die Neuschneemassen sind schon so fest gefroren, dass Roderich selbst mit seinen genagelten Schuhen keine sichtbaren Spuren treten kann. Doch in den Wächten sind ein paar seltsame Öffnungen: Schnauflöcher der Hunde! Wenigstens ein paar müssen noch am Leben sein, wenn sie durch diese kleinen Tunnel atmen können.
Mit Eispickeln beginnen die Schweizer, den Schnee zu entfernen. Sie müssen dabei extrem vorsichtig sein, um die Tiere in einem halben Meter Tiefe nicht zu verletzen. Was für ein törichter Fehler, die Hunde bei dem Sturm angebunden zu lassen! So wurde der immer höher aufgestaute Schnee zu einer Falle, aus der es kein Entkommen gab.
Jetzt kommt einer nach dem anderen zum Vorschein. Parpu mit dem zottigen schwarzen Fell und den leuchtenden Augen. Mons, der stärkste von allen, ein
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