Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
sich vor uns im Osten abzeichnen. Erst nur ein paar pyramidenartige Gipfel, zwei hohe, dazwischen ein niedrigerer, weiter rechts noch ein kleinerer. Dann immer mehr, bis eine komplette Gebirgskette vor uns liegt. Mit Gipfeln in der Form gigantischer Zähne und sägeblattartig gezackten Graten, zuletzt ist darunter auch das Meerwasser im Sermilik-Fjord mit seinen Eisbergen zu sehen. Was für ein versöhnliches Finale!
Land, Land, hat Opa gerufen, wie ein Seemann, obwohl er sich auf festem Grund befand. Einem festen Grund allerdings, der weniger Leben beherbergt als die meisten Gewässer. Im Meer leben Millionen Tiere, dort kann man angeln, im Eis nicht. Jeder Brösel Nahrung muss selbst transportiert werden. Entsprechend groß ist die Erleichterung, wenn endlich Felsinseln am Horizont erscheinen.
Die Expeditionsteilnehmer von 1912 hatten hier Angst vor Spalten und Schneesümpfen. Uns ergeht es ähnlich, denn über das Terrain vor uns haben wir keine Informationen. Sie merkten, dass sich der Untergrund hohl anhörte. Wir dagegen stoßen nun auf offene Spalten, die immer gewaltiger werden. Die ersten von ihnen lassen sich noch umgehen, doch bald führen nur teils haarsträubend aussehende Schneebrücken darüber hinweg.
Nachmittags ist der Schnee schon zu matschig und weich, um die halbwegs sicher passieren zu können. Deshalb schlagen wir nach einem Rekord von 29,7 gelaufenen Kilometern unsere Zelte auf.
Ich hatte vor der Abreise befürchtet, dass ich abends zu erschöpft sein würde, um noch zu schreiben. Doch ein ganz anderer Effekt tritt ein: Zwar sind die Beine schwer, heute ganz besonders, aber ich bin so fokussiert wie sonst nie, weil ich 24 Stunden am Tag im Jetzt lebe, ohne Ablenkung. Es gibt keine anderen Texte, die bearbeitet werden müssen, keine Hobbys, kein Feierabendbier mit Freunden, kein Kino. Ich bin frei von Facebook, Smartphone und E-Mail-Posteingang und froh, wenn die Satellitenverbindung lange genug hält, um ein paar Fotos zu versenden.
Der Solar-Akku erlaubt 120 Minuten Laptop-Betrieb pro Abend, gerade genug, um alle zwei Tage einen Text zu versenden. Im Alltag bin ich oft ein ruheloser Mensch, der von einer Aufgabe zur nächsten hetzt, mache immer drei Sachen gleichzeitig. Hier ist das anders, die Kargheit der Umgebung führt auch im Inneren zu einer tiefen Ruhe.
Der alte de Quervain wusste es schon vor 100 Jahren. »Für uns war Grönland eine Offenbarung«, schreibt er. »Und zu dem, was uns, oder wenigstens mir da offenbar wurde, gehört die klare Erkenntnis, dass wir, die wir uns als Kulturträger für weise halten, mit unserem Prinzip des ›Immer schneller‹ und ›Immer mehr‹ zu Narren geworden sind! Dadurch, dass es zehnmal geschwinder geht, dass wir an einem Tag zehnmal soviel hören, sehen und treiben können, meinen wir wohl den Lebensinhalt zu verzehnfachen? Wenn nun aber der Eindruck im gleichen Masse dürftig wird, als er flüchtiger ist? Was ist da gewonnen? ... Wenn die Eindrücke, die auf uns eindringen, zehnmal schneller daherstürmen, so wird dafür ihre Wirkung um das zehnmalzehnfache geringer. Und das Ergebnis ist dies, dass wir, je hastiger wir leben, um so ärmer werden!«
Am nächsten Morgen stehen wir schon um fünf auf, weil die Brücken morgens durch den Nachtfrost stabiler sind. Im Zickzackkurs mühen wir uns Kilometer für Kilometer, Stunde um Stunde voran und geraten schließlich in eine Sackgasse beängstigend großer Spalten. Nach meinem Segelfiasko, das uns einige Zeit gekostet hat, habe ich noch etwas gutzumachen. Jetzt ist der Moment gekommen. Ich schlage eine Umgehung nach links über ein Schneefeld im Norden vor und gehe eine Route voraus, die uns fast drei Kilometer weiter in Richtung Ziel und weit weg von den Spalten bringt. »Ist doch gut, jemanden dabeizuhaben, der die richtigen Gene für so was hat«, sagt Wilfried.
Bevor wir aber festen Grund erreichen, müssen wir noch eine brutale Buckeletappe überstehen. Sechs Kilometer können verdammt viel sein, wenn sie durch einen Irrgarten aus Gletscherbächen und Hügeln aus Eis führen. Wir packen mal wieder so viel Gewicht, wie wir tragen können, in unsere Rucksäcke und laufen eine Dreiviertelstunde vor. Dann den gleichen Weg zurück, noch mal Rucksäcke füllen, noch mal gehen. Für den letzten Durchgang schnallen wir zwei Schlitten übereinander, weil wir befürchten, dass die beiden beschädigten Exemplare sonst durchbrechen würden. Einer zieht, einer hält hinten. Mit Repschnur und
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