Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
und Ski die Steuerung des Segels. Dann esse ich heimlich meinen Apfel, es war ein anstrengender Tag. Der Geschmack ist himmlisch, nur den Stiel lasse ich übrig.
Am nächsten Morgen habe ich das Segel perfekt im Griff, es gehorcht auf jedes Kommando. Allerdings nur für etwa 500 Meter. Denn der Wind, bislang ein zuverlässiger und häufig nerviger Begleiter unserer Reise, will plötzlich nicht mehr blasen. 10 km/h. 5 km/h. Dann Flaute. Die totale Stille ist so ungewohnt, dass sie fast gespenstisch wirkt.
Wir legen fluchend die Segel zusammen. Auf den nächsten Tagesetappen können wir sie nicht nutzen, weil dann wieder Gletscherspalten zu überwinden sind. Für den Rest der Tour werden wir die Segel nicht mehr auspacken.
Ein langer Fußmarsch oder besser Skimarsch steht nun auf dem Programm, 30 Kilometer haben wir uns für heute vorgenommen. Wir gehen längere Etappen als sonst zwischen den Pausen und schwitzen wie noch nie in Grönland. Auf unseren Wolloberteilen sind bald weiße Punkte zu sehen, weil der Schweiß nach außen transportiert wird und dort gefriert.
Für einen Moment rede ich mir ein, dass es die Expeditionsteilnehmer von 1
912 einfacher hatten als wir: Sie hatten Hunde, die das Gepäck zogen. Wir dagegen sind selbst die Hunde. (Ich habe mir schon angewöhnt, bei großer Anstrengung die Zunge für ein paar Sekunden heraushängen zu lassen, das kühlt wunderbar.)
Doch schon im nächsten Moment weiß ich, der Gedanke ist Quatsch. Wer über vollkommen unbekanntes Terrain läuft mit dem Wissen, dass ein Misserfolg den Tod bedeutet, hat hier erheblich größere Sorgen als heutige Luxusabenteurer mit Satellitentelefonen. Aber eines gilt noch immer: Man muss jeden Meter aus eigener Kraft schaffen. Daran hat sich nichts geändert.
Wir bewegen uns nun exakt auf der historischen Route. Zumindest so exakt, wie es möglich ist. »Bis zu 100 Meter Ungenauigkeit muss man bei den damals errechneten Koordinaten einkalkulieren«, sagt Wilfried, der Vermessungsexperte. Er stellt sein Höhenbestimmungs-Ufo für eine Dreiviertelstunde am historischen Zeltplatz 28 auf und erlebt eine Überraschung: 130 Meter tiefer liegt der Punkt als noch vor 1
00 Jahren, das wäre eine dramatische Veränderung, denn selbst bei Einrechnung aller denkbaren Ungenauigkeiten sind es definitiv mehr als 100 Meter. Zwei Camps vorher, auf 1850 Metern Höhe, waren die Messdaten noch fast identisch mit denen vor 100 Jahren, am nächsten Punkt lagen sie schon 30 Meter darunter. »Der größte Teil davon muss sich in den letzten zwei, drei Jahrzehnten abgespielt haben«, erklärt er, das sei aus anderen Forschungen bekannt. »Wenn man das mal weiterdenkt, könnten in den nächsten 100 Jahren 3
00 bis 600 Meter Höhe verloren gehen, das wäre wie ein Totalkollaps des Eiskörpers«, sagt Wilfried. Auch die weiteren Ergebnisse seiner GPS-Forschungen sind ein Schock: Das Eis hat an den Messpunkten der Ostseite zwischen 2010 und 2012 drei bis vier Meter verloren, zwischen 200
6 und 2010 war es noch ein halber Meter pro Jahr. Die Abnahme beschleunigt sich enorm. »Das wird dafür sorgen, dass der Meeresspiegel jährlich um einige Millimeter, vielleicht eines Tages sogar Zentimeter anwächst«, sagt Wilfried. Momentan sind es 0,3 bis 0,8 Millimeter pro Jahr, die das Meer allein durch das Abschmelzen Grönlands dazugewinnt. Ich verstehe nun, warum Forscher das Inlandeis auch als »Ground Zero des Klimawandels« bezeichnen. Vermutlich kann schon in ein paar Jahrzehnten niemand mehr die de-Quervain-Route nachlaufen. Sie wird sich bald zu einem großen Teil in Wasser verwandeln und ins Meer abfließen.
20. Juli 1912
Grönland, Inlandeis
Nun ist es für alle offensichtlich, dass der Küstenverlauf ein anderer ist als angenommen. De Quervains Männer können sich nicht erklären, warum er nicht mit ihrer Karte übereinstimmt. Haben sie sich bei den Breitengraden vertan, vielleicht, weil ihre Uhren nicht genau genug gingen? Warum zeigen die Höhenberechnungen immer noch 1300 Meter, obwohl es nur noch ein paar Dutzend Kilometer zum Ufer sind? Und warum tauchen plötzlich rechts vom Kurs runde Bergkuppen auf, die nirgendwo verzeichnet sind? Hoessly, der anders als der Rest der Gruppe zwar mit einem Skalpell, aber nicht mit Vermessungsinstrumenten umgehen kann, sieht sich in seiner Skepsis bestätigt. Schon lange vorher hatte er befürchtet, dass sie an einer völlig falschen Stelle herauskommen könnten: »Ja wüsset ihr jetzt, dass mer am rächte Punkt
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