Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
mehr, sondern eine Trekkinggruppe mit Schatzsucherambitionen.
Die Koordinaten haben die Schweizer damals in ihrem wissenschaftlichen Bericht notiert: 66° 01’
46” Nord, 38° 12’ 7” Ost, 822 Meter über dem Meer. Der Pfeil auf dem gelben GPS-Gerät zeigt die Richtung an, wir überqueren die Moräne und ein Schneefeld. Danach sind es noch 6
0 Meter auf steinigem Untergrund. Der Zeltplatz lag damals auf Eis, das noch viel weiter ins Tal reichte als heute. Wilfried staunt nicht schlecht, als sein GPS-Gerät eine Höhe des Punktes angibt, die 70 Meter unter der Messung von 1912 liegt. Ist es möglich, das selbst hier, so nah an der Moräne, eine solche Eismenge verloren gegangen ist in 100 Jahren?
Camp 29 war damals der Schauplatz eines furchtbaren Massakers: Schlittenhunde von der Westküste durften nicht an die Ostküste, um die Artenreinheit zu gewährleisten. Darum musste mein Opa hier einige Tiere erschießen, nachdem sie wochenlang so treu gedient hatten.
Ich laufe nun also durch ein karges Geröllfeld irgendwo in Ostgrönland und suche nach alten Hundeschädeln. Ein bisschen verrückt ist das schon, aber eigentlich dürfte hier nichts wegkommen.
Nach etwa einer halben Stunde finde ich in einer Vertiefung zwischen Felsbrocken tatsächlich Reste von einem Tierkopf: ein verwittertes Rentiergeweih. Rentiere hatten die vier damals allerdings nicht im Zuggeschirr ihrer Schlitten, also suche ich weiter.
Kurz danach entdecke ich erneut etwas Weißes, das nicht wie ein Stein aussieht: ein Knochen! Er ist etwa 20 Zentimeter lang und sieht nach einem Schienbein aus, ein Teil des Wadenknochens ist noch daran. Die Größe würde zu einem ausgewachsenen Schlittenhund passen. Ob ein Anatomieexperte erkennen könnte, zu welcher Tierart der gehört? Schon möglich, dass ich ein Stück von Parpu, Erselik oder Cognac in der Hand halte.
Zurück im Zelt gibt es für zwei Stunden nichts zu tun, und ich lese ein bisschen. Neben Opas Grönland-Erinnerungen habe ich auch Passagen aus weiteren Tagebüchern ausgedruckt. Zum ersten Mal habe ich Zeit, darin zu blättern.
Während die Grönland-Berichte größtenteils sehr sachlich gehalten sind, lässt er später tiefer in sein Inneres blicken. »Ich gehöre nun einmal zu den Verschlossenen, ich kann nicht anders, als meine Gefühle unterdrücken«, notiert er 1916 in der spanischen Kriegsgefangenschaft, in der er lange Briefe an die Familie und ausführlich Tagebuch schreibt. Am meisten notiert er, als er zwischen 25 und 35 ist. Leider sind kaum Texte erhalten aus der Zeit, als er
50 war. Seine Erinnerungen an den Nationalsozialismus, seine Karriere unter Hitler, das wäre hochinteressant, denn dem Papier vertraut er mehr an als seinen Mitmenschen. »Fick, der Schweigsame«, nennt ihn de Quervain einmal.
Warum er ein Eigenbrötler ist, beschreibt er selbst in einem Tagebucheintrag aus dem Ersten Weltkrieg: »Warum ich mich scheue, immer neue Menschen kennen zu lernen?
1) Ist es mir nicht möglich mit jemandem vom Wetter zu reden mit dem Hintergedanken, dass mir die Bekanntschaft einmal etwas nützen wird. Dann müsste ich schon gleich sagen: ›Kann ich etwas an Ihnen verdienen, ich bin Architekt.‹ Das bring ich aber auch nicht.
2) Ich scheue mich davor, mit Menschen ›intimer‹ zu werden, weil ich mich dabei eines Treubruchgefühls gegen meine alten Freunde nicht ganz erwehren kann. Ich habe zwar die Fähigkeit, viele Menschen wirklich gern zu haben. Da aber das Denken eine Gedankenkette ist, die
gleichzeitig
nur
einen
Gedanken zulässt, so kann ich auch nicht gleichzeitig mit der selben Innigkeit an mehrere Menschen denken und für sie fühlen. Es kommt da einer nach dem andern und je mehr Freunde, desto kürzer kommt der einzelne in meinem Denken.
So
muss
insbesondere durch eine neue Freundschaft, je inniger sie ist, die Treue in demselben Maass für die alten Freunde mindestens zeitweise abnehmen. Also meine Gefühle für die alten Freunde sind es, die mich gegen die Menschen verschlossen machen.«
Im Ersten Weltkrieg dient er als Offizier in Kamerun, die Aufgabe liegt ihm nicht, aber er lernt viel über sich selbst und seine Fähigkeiten im Umgang mit anderen. Der Krieg habe ihm gezeigt, »dass ich kein ›Krieger‹ bin«, gesteht er in einem Brief an seine Mutter, und er weiß, dass er damit den militärbegeisterten Vater schwer enttäuscht. »Die berauschende Kampfeslust, die es geben soll, kenne ich nicht. ... Ich bin zu gutmütig und zu schwach und denke bei
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