Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
der Randmoräne, die die Grenze vom Inlandeis zu den Gebirgshängen der Ostküste markiert. Sie haben das Eismonster überwunden. »Sie waren gute Begleiter«, sagt de Quervain, als er jedem reihum die Hand schüttelt.
21. August 2012
Grönland, Inlandeis
Bis ins 18. Jahrhundert reiste man in abgelegene Regionen der Erde, um neues Land für seinen Herrscher zu entdecken und Gold oder Gewürze zu finden. Danach ging es darum, die Karten der Erde zu verfeinern und Küstenlinien zu vermessen. Im 20. Jahrhundert beflügelten Expeditionen zu den Polen und auf die höchsten Berge die Phantasie der Menschen, Pioniere eroberten die letzten Regionen der Erde, die noch niemand betreten hatte.
Im 21. Jahrhundert ist das Abenteuer ein käufliches Gut geworden, das mehr Menschen als je zuvor offensteht. Extrembergsteigen auf den Everest, Paddeln in der Arktis, Segeltörns über den Pazifik, Grönland-Durchquerungen auf Skiern – für jeden Reisetraum gibt es einen Veranstalter, der ihn gegen entsprechende Bezahlung möglich macht.
Um trotz dieser Allgegenwärtigkeit des Abenteuers noch Aufsehen zu erregen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sucht man sich eine besonders abwegige Pioniertat heraus, auf die noch niemand gekommen ist, und wird dann der Erste, der die sieben zweithöchsten Kontinentgipfel erklettert hat oder der erste 13-Jährige auf dem Mount Everest. Oder man versucht, unterwegs einen möglichst spektakulären Film zu drehen. Skiabfahrten in der Einsamkeit, Helikopteraufnahmen von Klettertouren, hustende und röchelnde Achttausender-Besteiger hautnah – in HD gefilmt und mit lauten E-Gitarren unterlegt, wird die Wildnis zur Bühne für immer spektakulärere Selbstdarstellungen. Der Kampf um die größte alpinistische Leistung ist einem Kampf um die besten Bilder gewichen, eine logische Konsequenz aus der Tatsache, dass die ersten und zweiten Plätze längst vergeben sind. Man kann nicht mehr der Erstbesteiger eines Achttausenders werden, aber man kann versuchen, den besten Film von der Tour mitzubringen.
Glaubenskämpfe werden ausgefochten zwischen traditionellen Alpinisten, die nur die Leistung honorieren wollen, und einer jungen Generation, die es völlig normal findet, beim Snowboarden, Klettern oder Wingsuit-Fliegen zu erproben, was aus der Helmkamera-Perspektive am wildesten aussieht.
Was wir hier gerade machen, sieht nicht besonders wild aus. Vier Langläufer wuchten ihre Zugschlitten mit gleichmäßigen Schritten durch die eintönigste Landschaft der Welt. Jedes Filmteam würde verzweifeln.
Dafür sind wir mit hoher Wahrscheinlichkeit gerade die Ersten seit 1912, die die Etappen der historischen Zeltplätze 26 bis 29 nachlaufen. Denn wer auf Skiern aus dem Westen kommt, steuert weiter nach Süden, weil man dort leichter vom Eis herunterkommt.
Als ich mir dank dieser Gedanken gerade so richtig pioniermäßig vorkomme, sehe ich plötzlich ein paar kleine schwarze Punkte auf dem Eis vor uns. Menschen! Spielt jetzt meine Phantasie völlig verrückt? Sie sind etwa drei Kilometer weg, wir laufen hin.
Aus den schwarzen Punkten werden die Gestalten von sechs Männern und drei Frauen mit leicht beladenen Plastik-Pulkaschlitten. »Das passiert nicht so oft, dass man hier jemanden trifft«, sagt Andris Jakobsons mit einem breiten Grinsen. Wir kennen den sympathischen Letten aus Tasiilaq, er ist Mitarbeiter in Robert Peronis »Rotem Haus«. Seine Aussage ist eine massive Untertreibung: Nur ein paar Dutzend Menschen gehen pro Jahr so weit auf den grönländischen Eispanzer.
Er ist unterwegs mit einer Gruppe aus seinem Heimatland, die für ein paar Tage mit Steigeisen auf dem Eis herumwandert. Sie hält respektvoll Abstand, vermutlich riechen wir nach vielen Tagen ohne Dusche ein wenig streng.
Einige Filmkameras sind auf uns gerichtet, als wir uns mit Andris unterhalten. Er kann sich gut in unsere Situation hineinversetzen, weil er selbst zwei Inlandeis-Durchquerungen versucht hat und beide abbrechen musste. »Einmal war ich mit meiner damaligen Freundin unterwegs, das klappte gar nicht. Und beim zweiten Mal hatte ich nur Peronin als Nahrung dabei und habe das mit zu wenig Wasser gemischt. Das habe ich nicht vertragen.« Beim nächsten Mal klappt’s bestimmt, sagt er zum Abschied. Ich weiß nicht, ob er sich meint oder uns. Acht weitere Letten wünschen uns »Good luck!« und ziehen weiter nach Süden, um dort einen Zeltplatz zu suchen.
Mit jedem gelaufenen Kilometer wächst die Zahl der Bergkuppen, die
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