Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Hoessly ist losgefahren, um die ganzen Sachen abzuholen, die am unteren Ende der damals noch vorhandenen Schneewehe lagerten. Da hätten wir noch lange suchen können.
Mir fällt auf, dass gegen Ende des Tagebuchs die Spitzen gegen »Q.« immer häufiger werden. Die Erleichterung, endlich mal ein paar Tage ohne den Expeditionsleiter zu verbringen, scheint groß zu sein. Unterwegs müssen sie sich fürchterlich gestritten haben.
Worum es dabei ging, will mein Opa selbst seinen Notizen nicht anvertrauen, an einer Stelle schreibt er: »Ich will auch hier in meinem Tagebuch mein schweigendes Versprechen halten und nicht mehr aufschreiben, was zwischen Q. und mir von diesem Tag (28. Juli 12) ab rückwärts vorgefallen ist.« Doch vorher findet sich immerhin eine Passage, die verdeutlicht, wie die Rollen unterwegs verteilt waren: »Bis weit ins Inlandeis hinein waren Hü und ich auch bei Hoessli immer ›die junge Lüt‹. Q. glaubte anfänglich wahrscheinlich, er könne sich Hoessli so als eine Art ersten Offizier und uns als Bütschgi-e halten. Mit der Zeit hat sich das aber geändert. Erstens hat Hoessli eingesehen, dass wir, wenigstens Hü, ganz rechte Lüt sind, und dass Q. eine proletenhafte Natur ist, und zweitens hat auch Q. gemerkt, was er an Hü hat. Mich hat er auf dem Inlandeis offenbar noch sehr gering geschätzt. Er benimmt sich auch gegen mich am Rüpelhaftesten, und die Folge ist, dass ich schon lange nur das Notwendigste mit ihm verhandele. Die Abend- oder Morgenunterhaltung im Zelt mach’ ich gar nicht mehr mit.«
Warum er das Wort »Bütschgi«, für Apfelgehäuse, verwendet, ist mir schleierhaft. Aber was er damit meint, ist aus dem Zusammenhang leicht zu erraten: Die beiden jüngsten Teilnehmer hatten es besonders schwer unter dem strengen Chef. Sein Leben lang hat mein Opa Autoritäten nie besonders ernst genommen und immer auch die Lächerlichkeit gesehen, die sich ergibt, wenn jemand Befehlsgewalt über andere hat.
De Quervain war ein hochgebildeter und zielstrebiger Mensch, ein Planungsgenie mit Selbstbewusstsein bis an die Grenze zur Überheblichkeit. Jemand, der in jedem Lebensbereich immer der Beste sein will. Von sich selbst und von anderen forderte er viel, und wenn ihm etwas nicht passte, wurde er schnell laut. Auch in seinem eigenen Bericht reflektiert er darüber, in einigen Situationen zu aufbrausend reagiert zu haben. Hinter seiner Strenge versteckte sich jedoch auch eine sensible Natur: Wenn andere Menschen wieder einmal seine hohen Erwartungen enttäuschten, schlug ihm das aufs Gemüt.
Mit dieser Art kam der 25-jährige Roderich wohl am wenigsten gut zurecht, weil auch er besonders verletzlich war und Kritik oft persönlich nahm. Vielleicht hatte er das Gefühl, sein Beitrag zu dem ganzen Unternehmen werde zu wenig gewürdigt, immerhin fror er täglich stundenlang bei den Messungen unter freiem Himmel.
Auf einer Arktistour ist man auf seine Mitstreiter angewiesen, das eigene Leben kann davon abhängen, dass kein anderer einen dummen Fehler macht. Die Einsamkeit tut das Ihrige dazu, jeden Konflikt noch zu verschärfen. Man verbringt eine lange Zeit auf engstem Raum zusammen, die Macken der anderen nerven mit jedem Tag ein bisschen mehr.
Dank tatkräftiger Unterstützung meiner Eltern und eines beträchtlichen Teiles ihres Freundeskreises konnte ich inzwischen den kryptischen Satz entziffern, den ich in de Quervains Tagebuch in Zürich entdeckt hatte. Da steht nicht »Ficks eisige Pfeiffuchserei«, sondern »Ficks ewige Pfeifsymphonie geht mir auf die Nerven«. Das klingt plausibel: Meine Oma hat immer wieder erzählt, dass Roderich längere Musikstücke komplett pfeifen konnte. Nun stelle ich mir vor, wie er am Theodolit mit eisigen Fingern die Schrauben justiert und dabei Mozart-Sonaten flötet.
Ein Psychologe, der gruppendynamische Prozesse in Stresssituationen beobachten will, hätte auf einer Arktistour die besten Probanden, die er sich wünschen kann. Nur bei unserer Gruppe nicht: Es ging so überraschend harmonisch zu, dass der Boulevardjournalist in mir fast enttäuscht war. Das Einzige, was entfernt an einen Streit erinnert, war ein Wutanfall von Jan, der mit einem »Ich kann mir das nicht mehr anhören!« das Küchenzelt verließ, als Wilfried eines Abends mit viel Liebe zum Detail von den Köstlichkeiten eines Hochzeitsbuffets berichtete. Drei eher ruhige Typen und ein Leitwolf, dessen Kompetenz von keinem angezweifelt wird, der aber alle an den Entscheidungen
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