Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
den Statikern und Installateuren. Es ist eine sehr förmliche Rede und eine sehr bescheidene: »Im einzelnen brauche ich über den nun fertigen Bau, was seine Architektur anbetrifft, nichts zu sagen. Was wir daran gemacht haben, das kann man ja alles sehen.«
Er sagt »Möchlichgeit« statt Möglichkeit und »Renessangs« statt Renaissance. Zum Abschluss dankt er den Handwerkern, denen er sich nach unzähligen Stunden, die er selbst in Werkstätten verbracht hat, besonders nahe fühlt. »Wenn auch beim Bauen heute sehr viel maschinell gemacht werden muss und manche Teile genormt fertig zur Baustelle kommen, bleibt die letzte Vollendung doch immer noch dem Handwerk vorbehalten.«
Auch meine Mutter ist enttäuscht: »Er klingt wie ein kleiner Mann und gar nicht wie ein gebildeter Künstler.« Tatsächlich lässt die dünne Stimme nicht an einen 1,86-Meter-Hünen denken.
Seit Grönland sind vier Jahrzehnte vergangen, zwei Weltkriege und berufliche Höhen und Tiefen trennen den 67-jährigen Redner von meinem Inlandeis-Roderich. Ich erkenne ihn kaum wieder. Nur die Liebe zum Handwerk kommt mir vertraut vor aus den Tagen seiner Expeditionsvorbereitung in der Werkstatt.
Ich sehe mich noch etwas um in der Mühle. In Schränken stapeln sich Architekturbücher und Pläne, in der Ecke steht ein Gipsmodell des Wasserstraßenamtes von Linz, meine Eltern haben gerade mit einem Pinsel eine dunkle Staubschicht davon entfernt. Viele Schubladen sind bis oben hin voll mit Zeichnungen und Fotos.
Ich reise im Geist noch ein wenig durch die Jahrzehnte, blättere in schweren Wälzern über den Obersalzberg, über die Architekten des »Dritten Reichs«. Dann schaue ich mir alte Fotoalben aus Opas Kindheit an. Gruppenbilder der Familie. Der Vater mit Pickelhaube und Militäruniform. Roderich im Handstand auf einem Pferderücken. Roderich in gestreifter Unterhose, mit Gewehr in einem Teich watend. Roderich beim Skispringen. Roderich mit Geige, Gitarre oder Klavier. Studiofotos mit den Geschwistern. Irgendwo zwischen dem Handstand-Jugendlichen und dem Hitler-Günstling liegt der Grönland-Held.
Um meinen Opa besser kennenzulernen, hätte ich mich auch einfach vier Wochen in Herrsching einquartieren können. Wäre erheblich bequemer gewesen, als mit seinem Tagebuch durch Grönland zu stapfen. Oder ich hätte zu seinen ganzen Bauwerken reisen können, mehr als 20 stehen noch in Bayern und Österreich.
Zum Glück habe ich das nicht gemacht. In Grönland konnte ich Opa ganz nah sein bei der Unternehmung, die für ihn die vielleicht wertvollste Erfahrung seines Lebens war. Das ist eigentlich das Schönste, was man teilen kann. Und ist nicht eine Momentaufnahme aus einem Leben viel stärker als das übliche Konglomerat aus allen Lebensjahrzehnten, die man im Nachhinein zu einer Biografie zusammenrührt? Wie mit einer Formel: Jugend + Arbeitsleben + Heirat + Erfolge + Misserfolge = Persongesamt. Allzu lebendig ist das Ergebnis wie bei vielen Rechenaufgaben nicht. Denn in der Vorstellung kann immer nur ein Kopf gleichzeitig existieren, ob das nun der eines 25-Jährigen oder eines 69-Jährigen ist.
Letzterer liegt mit geschlossenen Augen auf einem Planschrank: seine Totenmaske aus Gips. Und daneben liegt sie noch einmal, in einer schwarzen gusseisernen Variante, die sehe ich jetzt zum ersten Mal. Muss teuer gewesen sein, sie ist mindestens dreimal so schwer. Zwei Arten von Masken, weiß und schwarz, zwei Versionen von Opa. »Von den weißen haben wir sieben Stück, kannst dir gern eine mitnehmen«, sagt meine Mutter. Ich lehne ab. Dieser Gips-Opa ist mir entschieden zu alt. Und zu tot. Ich habe einen besseren getroffen, irgendwo da draußen im Eis von Grönland.
Anhang
Expeditionsziel Grönland
Sucht man nach einem gemeinsamen Motto für die früheste Phase der Grönland-Expeditionen, trifft es »Hauptsache lebendig hinkommen« wohl am besten. Im zehnten Jahrhundert gründet Erik der Rote die ersten skandinavischen Siedlungen im Süden und Südosten Grönlands. Im Jahr 985 bricht er von Island mit 25 Schiffen auf, 14 kommen an. Der norwegisch-isländische Seefahrer gibt der größten Insel der Welt ihren Namen, der »grünes Land« bedeutet. »Die Menschen werden sich eher bemühen, dorthin zu gehen, weil das Land einen guten Namen hat«, soll er gesagt haben. Was cleveres Tourismus-Marketing angeht, war Erik der Rote eindeutig seiner Zeit voraus.
Im Jahr 1472 erreicht eine dänisch-norwegische Expedition die südlichste Spitze Grönlands.
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