Oper und Drama
rhythmischen Verse und im Stabreime bereits zu einem Gefühlsinhalte sich verdichtet hat und die volle Verwirklichung dieses Gefühlsinhaltes durch seine unmittelbarste Mitteilung an die Sinne von da an einzig nur noch bewerkstelligt werden soll, wo durch die Auflösung des Vokales in den Gesangston die reine Sprache des Gefühles als die einzig noch vermögende anerkannt worden ist. Von dem musikalischen Ertönen des Vokales in der Wortsprache an ist das Gefühl zum bestimmten Anordner aller weiteren Kundgebung an die Sinne erhoben worden, und das musikalische Gefühl bestimmt nun allein noch die Wahl und Bedeutung der Neben- wie Haupttöne, und zwar nach der Natur der Tonverwandtschaft, deren besonderes Glied durch den notwendigen Gefühlsausdruck der Phrase zur Wahl entschieden wird.
Die Verwandtschaft der Töne ist aber die musikalische Harmonie, die wir hier zunächst nach ihrer Ausdehnung in der Fläche aufzufassen haben, in welcher sich die Gliedfamilien der weitverzweigten Verwandtschaft als Tonarten darstellen. Behalten wir jetzt die hier gemeinte horizontale Ausdehnung der Harmonie im Auge, so behalten wir uns ausdrücklich die allbestimmende Eigenschaft der Harmonie in ihrer vertikalen Ausdehnung zu ihrem Urgrunde für den entscheidenden Moment unserer Darstellung vor. Jene horizontale Ausdehnung, als Oberfläche der Harmonie, ist aber die Physiognomie derselben, die dem Auge des Dichters noch erkennbar ist: sie ist der Wasserspiegel, der dem Dichter noch sein eigenes Bild zurückspiegelt, wie er dies Bild zugleich auch dem beschauenden Auge desjenigen, an den der Dichter sich mitteilen wollte, zuführt. Dieses Bild aber ist in Wahrheit die verwirklichte Absicht des Dichters – eine Verwirklichung, die dem Musiker wiederum nur möglich ist, wenn er aus der Tiefe des Meeres der Harmonie zu dessen Oberfläche auftaucht, auf der eben die entzückende Vermählung des zeugenden dichterischen Gedankens mit dem unendlichen Gebärungsvermögen der Musik gefeiert wird.
Jenes wogende Spiegelbild ist die Melodie . In ihr wird der dichterische Gedanke zum unwillkürlich ergreifenden Gefühlsmomente, wie das musikalische Gefühlsvermögen in ihr die Fähigkeit gewinnt, sich bestimmt und überzeugend, als scharf begrenzte, zu plastischer Individualität gestaltete, menschliche Erscheinung kundzugeben. Die Melodie ist die Erlösung des unendlich bedingten dichterischen Gedankens zum tiefempfundenen Unbewußtsein höchster Gefühlsfreiheit: sie ist das gewollte und dargetane Unwillkürliche, das bewußte und deutlich verkündete Unbewußte, die gerechtfertigte Notwendigkeit eines aus weitester Verzweigung zur bestimmtesten Gefühlsäußerung verdichteten, unendlich umfangreichen Inhaltes. –
Halten wir nun diese auf der horizontalen Oberfläche der Harmonie als Spiegelbild des dichterischen Gedankens erscheinende und der Urverwandtschaft der Töne durch Aufnahme in eine Familie dieser Verwandtschaft – die Tonart – eingereihte Melodie gegen jene mütterliche Urmelodie , aus der einst die Wortsprache geboren wurde, so zeigt sich uns folgender überaus wichtige und hier mit Bestimmtheit ins Auge zu fassende Unterschied.
Aus einem unendlich verfließenden Gefühlsvermögen drängten sich zuerst menschliche Empfindungen zu einem allmählich immer bestimmteren Inhalte zusammen, um sich in jener Urmelodie der Art zu äußern, daß der naturnotwendige Fortschritt in ihr sich endlich bis zur Ausbildung der reinen Wortsprache steigerte. Das Bezeichnendste der ältesten Lyrik ist das, daß in ihr die Worte und der Vers aus dem Tone und der Melodie hervorgingen, wie sich die Leibesgebärde aus der allgemein hindeutenden und nur in öfterster Wiederholung verständlichen Tanzbewegung zur gemesseneren, bestimmteren mimischen Gebärde verkürzte. Je mehr sich in der Entwickelung des menschlichen Geschlechtes das unwillkürliche Gefühlsvermögen zum willkürlichen Verstandesvermögen verdichtete; je mehr demnach auch der Inhalt der Lyrik aus einem Gefühlsinhalte zu einem Verstandesinhalte ward – desto erkennbarer entfernt sich auch das Wortgedicht von seinem ursprünglichen Zusammenhange mit jener Urmelodie, deren es sich gewissermaßen für seinen Vortrag nur noch bediente, um einen kälteren didaktischen Inhalt dem altgewohnten Gefühle so schmackhaft wie möglich zuzuführen. Die Melodie selbst, wie sie einst dem Urempfindungsvermögen der Menschen als notwendiger Gefühlsausdruck entblüht war und im ihr
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