Oper und Drama
zum Walter der Natur wird.
Prüfen wir das Walten des tonvermählten Dichters nun mit nüchternem Auge. –
Das verwandtschaftliche Band der Töne, deren rhythmisch bewegte und in Hebungen und Senkungen gegliederte Reihe die Versmelodie ausmachen, verdeutlicht sich dem Gefühle zunächst in der Tonart , die aus sich die besondere Tonleiter bestimmt, in welcher die Töne jener melodischen Reihe als besondere Stufen enthalten sind. – Wir sahen bis dahin den Dichter in dem notwendigen Streben begriffen, die Mitteilung seines Gedichtes an das Gefühl dadurch zu ermöglichen, daß er den aus weiten Kreisen gesammelten und zusammengedrängten Einzelheiten seiner sprachorganischen Ausdrucksmittel das unter sich Fremdartige benahm, indem er sie, namentlich auch durch den Reim, in möglichst darstellbarer Verwandtschaft dem Gefühle vorführte. Diesem Drange lag das unwillkürliche Wissen von der Natur des Gefühles zugrunde, das nur das Einheitliche, in seiner Einheit das Bedingte und Bedingende zugleich Enthaltende, das mitgeteilte Gefühl also nach seinem Gattungswesen in der Art erfaßt, daß es sich von den in ihm enthaltenen Gegensätzen nicht nach eben diesem Gegensatze, sondern nach dem Wesen der Gattung, in welchem die Gegensätze versöhnt sind, bestimmen läßt. Der Verstand löst, das Gefühl bindet; d. h., der Verstand löst die Gattung in die ihr inliegenden Gegensätze auf, das Gefühl bindet die Gegensätze wieder zur einheitlichen Gattung zusammen. Diesen einheitlichen Ausdruck gewann der Dichter am vollständigsten endlich im Aufgehen des nach Einheit nur ringenden Wortverses in die Gesangsmelodie, die ihren einheitlichen, das Gefühl unfehlbar bestimmenden Ausdruck aus der den Sinnen unwillkürlich sich darstellenden Verwandtschaft der Töne gewinnt.
Die Tonart ist die gebundenste, unter sich eng verwandteste Familie der ganzen Tongattung ; als wahrhaft verwandt mit der ganzen Tongattung zeigt sie sich uns aber da, wo sie aus der Neigung ihrer einzelnen Tonfamilienglieder zur unwillkürlichen Verbindung mit anderen Tonarten fortschreitet. Wir können die Tonart hier sehr entsprechend mit den alten patriarchalischen Stammfamilien der menschlichen Geschlechter vergleichen: in diesen Familien begriffen sich nach unwillkürlichem Irrtume die ihnen Angehörigen als Besondere, nicht als Glieder der ganzen menschlichen Gattung; die Geschlechtsliebe des Individuums, die sich nicht an einer gewöhnten, sondern nur an einer ungewohnten Erscheinung entzündete, war es aber, was die Schranken der patriarchalischen Familie überstieg und die Verbindung mit anderen Familien knüpfte. Das Christentum hat die Einheit der menschlichen Gattung in ahnungsvoller Verzückung verkündet: die Kunst, die dem Christentume ihre eigentümlichste Entwickelung verdankte, die Musik, hat jenes Evangelium in sich aufgenommen und zu schwelgerisch entzückender Kundgebung an das sinnliche Gefühl als moderne Tonsprache gestaltet. Vergleichen wir jene urpatriarchalischen Nationalmelodien, die eigentlichen Familienüberlieferungen besonderer Stämme, mit der Melodie, die aus dem Fortschritte der Musik durch die christliche Entwickelung uns heute ermöglicht ist, so finden wir dort als charakteristisches Merkmal, daß sich die Melodie fast nie aus einer bestimmten Tonart herausbewegt und mit ihr bis zur Unbeweglichkeit verwachsen erscheint: dagegen hat die uns mögliche Melodie die unerhört mannigfaltigste Fähigkeit erhalten, vermöge der harmonischen Modulation die in ihr angeschlagene Haupttonart mit den entferntesten Tonfamilien in Verbindung zu setzen, so daß uns in einem größeren Tonsatze die Urverwandtschaft aller Tonarten gleichsam im Lichte einer besonderen Haupttonart vorgeführt wird.
Dies unermeßliche Ausdehnungs- und Verbindungsvermögen hat den modernen Musiker so berauscht, daß er, aus diesem Rausche wiederum ernüchtert, sogar absichtlich nach jener beschränkteren Familienmelodie sich umsah, um durch eine ihr nachgeahmte Einfachheit sich verständlich zu machen. Dieses Umsehen nach jener patriarchalischen Beschränktheit zeigt uns die eigentliche schwache Seite unserer ganzen Musik, in der wir bisher – sozusagen – die Rechnung ohne den Wirt gemacht hatten. Von dem Grundtone der Harmonie aus war die Musik zu einer ungeheuer mannigfaltigen Breite aufgeschossen, in der dem zweck- und ruhelos daherschwimmenden absoluten Musiker endlich bang zumute wurde: er sah vor sich nichts wie eine unendliche
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