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Oper und Drama

Oper und Drama

Titel: Oper und Drama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wagner
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entsprechenden Vereine mit Wort und Gebärde sich zu der Fülle entwickelt hatte, die wir noch heute in der echten Volksmelodie wahrnehmen, vermochten jene reflektierenden Verstandesdichter nicht zu modeln und dem Inhalte ihrer Ausdrucksweise entsprechend zu variieren; noch weniger aber war es ihnen möglich, aus dieser Ausdrucksweise selbst zur Bildung neuer Melodien sich anzulassen, weil eben der Fortschritt der allgemeinen Entwickelung in dieser großen Bildungsperiode ein Fortschreiten aus dem Gefühle zum Verstande war und der wachsende Verstand in seinem Experimentieren sich nur gehindert fühlen konnte, wenn er zur Erfindung neuer Gefühlsausdrücke, die ihm fern lagen, irgendwie gedrängt worden wäre.
    Solange die lyrische Form eine von der Öffentlichkeit anerkannte und geforderte blieb, variierten daher die Dichter, die dem Inhalte ihrer Dichtungen nach zum Erfinden von Melodien unfähig geworden waren, vielmehr das Gedicht, nicht aber die Melodie, die sie unverrückt stehenließen und der zulieb sie nur dem Ausdrucke ihrer dichterischen Gedanken eine äußerliche Form verliehen, welche sie als Textvariation der unveränderten Melodie unterlegten. Die so überreiche Form der auf uns gekommenen griechischen Sprachlyrik, und namentlich auch die Chorgesänge der Tragiker, können wir uns als aus dem Inhalte dieser Dichtungen notwendig bedingt gar nicht erklären. Der meist didaktische und philosophische Inhalt dieser Gesänge steht gemeinhin in einem so lebhaften Widerspruche mit dem sinnlichen Ausdrucke in der überreich wechselnden Rhythmik der Verse, daß wir diese so mannigfaltige sinnliche Kundgebung nicht als aus dem Inhalte der dichterischen Absicht an sich hervorgegangen, sondern als aus der Melodie bedingt, und ihren unwandelbaren Anforderungen mit Gehorsam zurechtgelegt, begreifen können. – Noch heute kennen wir die echtesten Volksmelodien nur mit späteren Texten, die zu ihnen, den einmal bestehenden und beliebten Melodien, auf diese oder jene äußere Veranlassung hin nachgedichtet worden sind, und – wenn auch auf einer bei weitem niedrigeren Stufe – verfahren noch heute, zumal französische, Vaudevilledichter, indem sie ihre Verse zu bekannten Melodien dichten und diese Melodien kurzweg dem Darsteller bezeichnen, nicht unähnlich den griechischen Lyrikern und Tragödiendichtern, die jedenfalls zu fertigen, der ältesten Lyrik ureigenen und im Munde des Volkes – namentlich bei heiligen Gebräuchen – fortlebenden Melodien die Verse dichteten, deren wunderbar reiche Rhythmik uns jetzt, da wir jene Melodien nicht mehr kennen, in Erstaunen setzt. –
    Die eigentliche Darlegung der Absicht des griechischen Tragödiendichters enthüllt aber, nach Inhalt und Form, der ganze Verlauf ihrer Dramen, der sich unbestreitbar aus dem Schoße der Lyrik zur Verstandesreflexion hin bewegt, wie der Gesang des Chores in die nur noch gesprochene jambische Rede der Handelnden ausmündet. Was diese Dramen in ihrer Wirkung uns aber noch als so ergreifend hinstellt, das ist eben das in ihnen beibehaltene und in den Hauptmomenten stärker wiederkehrende lyrische Element, in dessen Verwendung der Dichter mit vollem Bewußtsein verfuhr, gerade wie der Didaktiker, der seine Lehrgedichte der Jugend in den Schulen im gefühlbestimmenden lyrischen Gesange vorführte. Nur zeigt uns ein tieferer Blick, daß der tragische Dichter seiner Absicht nach minder unverhohlen und redlich war, wenn er sie in das lyrische Gewand einkleidete, als da, wo er sie unumwunden nur noch in der gesprochenen Rede ausdrückte, und in dieser didaktischen Rechtschaffenheit, aber künstlerischen Unredlichkeit liegt der schnelle Verfall der griechischen Tragödie begründet, der das Volk bald anmerkte, daß sie nicht sein Gefühl unwillkürlich, sondern seinen Verstand willkürlich bestimmen wollte. Euripides hatte unter der Geißel des aristophanischen Spottes blutig für diese plump von ihm aufgedeckte Lüge zu büßen. Daß endlich die immer didaktisch absichtlichere Dichtkunst zur staatspraktischen Rhetorik und endlich gar zur Literaturprosa werden mußte, war die äußerste, aber ganz natürliche Konsequenz der Entwickelung des Verstandes aus dem Gefühle, und – für den künstlerischen Ausdruck – der Wortsprache aus der Melodie. –
    Die Melodie, deren Gebärung wir jetzt lauschen, verhält sich aber zu jener mütterlichen Urmelodie als ein vollkommener Gegensatz, den wir nun, nach den vorangegangenen umständlicheren Betrachtungen,

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