Oper und Drama
als ein Fortschreiten aus dem Verstande zum Gefühl, aus der Wortphrase zur Melodie, gegenüber dem Fortschreiten aus dem Gefühle zum Verstande, aus der Melodie zur Wortphrase, kurz zu bezeichnen haben. Auf dem Wege des Fortschreitens von der Wortsprache zur Tonsprache gelangten wir bis auf die horizontale Oberfläche der Harmonie, auf der sich die Wortphrase des Dichters als musikalische Melodie abspiegelte. Wie wir nun von dieser Oberfläche aus uns des ganzen Gehaltes der unermeßlichen Tiefe der Harmonie, dieses urverwandtschaftlichen Schoßes aller Töne, zur immer ausgedehnteren Verwirklichung der dichterischen Absicht bemächtigen und so die dichterische Absicht als zeugendes Moment in die volle Tiefe jenes Urmutterelementes in der Weise versenken wollen, daß wir jedes Atom dieses ungeheuern Gefühlschaos' zu bewußter, individueller Kundgebung in einem dennoch nie sich verengenden, sondern stets sich erweiternden Umfange bestimmen; der künstlerische Fortschritt also, der sich in der Ausbreitung einer bestimmten, bewußten Absicht in ein unendliches und bei aller Unermeßlichkeit dennoch wiederum genau und bestimmt sich kundgebendes Gefühlsvermögen herausstellt – soll nun der Gegenstand unserer weiteren schließlichen Darstellung sein. –
Bestimmen wir zunächst aber noch eines, um unseren heutigen Erfahrungen gegenüber uns verständlich zu machen.
Wenn wir die Melodie, wie wir sie bis jetzt nur bezeichneten, als äußerste, vom Dichter notwendig zu ersteigende Höhe des Gefühlsausdruckes der Wortsprache faßten und auf dieser Höhe den Wortvers bereits auf der Oberfläche der musikalischen Harmonie widergespiegelt anblickten, so erkennen wir bei näherer Prüfung zu unserer Überraschung, daß diese Melodie der Erscheinung nach vollkommen dieselbe ist, die aus der unermeßlichen Tiefe der Beethovenschen Musik an deren Oberfläche sich heraufdrängte, um in der »neunten Symphonie« das helle Sonnenlicht des Tages zu grüßen. Die Erscheinung dieser Melodie auf der Oberfläche des harmonischen Meeres ermöglichte sich, wie wir sahen, nur aus dem Drange des Musikers, dem Dichter Aug' in Auge zu sehen; nur der Wortvers des Dichters war vermögend, sie auf jener Oberfläche festzuhalten, auf der sie sonst sich nur als flüchtige Erscheinung kundgegeben hätte, um ohne diesen Anhalt schnell wieder in die Tiefe des Meeres unterzusinken. Diese Melodie war der Liebesgruß des Weibes an den Mann; das umfassende »ewig Weibliche« bewährte sich hier liebevoller als das egoistische Männliche, denn es ist die Liebe selbst, und nur als höchstes Liebesverlangen ist das Weibliche zu fassen, offenbare es sich nun im Manne oder im Weibe. Der geliebte Mann wich bei jener wundervollen Begegnung dem Weibe noch aus: was für dieses Weib der höchste, opferduftigste Genuß eines ganzen Lebens war, war für den Mann nur ein flüchtiger Liebesrausch. Erst der Dichter, dessen Absicht wir uns hier darstellten, fühlt sich zur herzinnigsten Vermählung mit dem »ewig Weiblichen« der Tonkunst so unwiderstehlich stark gedrängt, daß er in dieser Vermählung zugleich seine Erlösung feiert.
Durch den erlösenden Liebeskuß jener Melodie wird der Dichter nun in die tiefen, unendlichen Geheimnisse der weiblichen Natur eingeweiht: er sieht mit anderen Augen und fühlt mit anderen Sinnen. Das bodenlose Meer der Harmonie, aus dem ihm jene beseligende Erscheinung entgegentauchte, ist ihm kein Gegenstand der Scheu, der Furcht, des Grausens mehr, wie als ein unbekanntes, fremdes Element es seiner Vorstellung zuvor erschien; nicht nur auf den Wogen dieses Meeres vermag er nun zu schwimmen, sondern – mit neuen Sinnen begabt – taucht er jetzt bis auf den tiefsten Grund hinab. Aus seinem einsamen, furchtbar weiten Mutterhause hatte es das Weib hinausgetrieben, um des Nahens des Geliebten zu harren; jetzt senkt dieser mit der Vermählten sich hinab und macht sich mit allen Wundern der Tiefe traulich bekannt. Sein verständiger Sinn durchdringt alles klar und besonnen bis auf den Urquell, von dem aus er die Wogensäulen ordnet, die zum Sonnenlichte emporsteigen sollen, um an seinem Scheine in wonnigen Wellen dahinzuwallen, nach dem Säuseln des Westes sanft zu plätschern, oder nach den Stürmen des Nordes sich männlich zu bäumen; denn auch dem Atem des Windes gebietet nun der Dichter – denn dieser Atem ist nichts anderes als der Hauch unendlicher Liebe, der Liebe, in deren Wonne der Dichter erlöst ist, in deren Macht er
Weitere Kostenlose Bücher