Oper und Drama
Wogenmasse von Möglichkeiten, in sich selbst aber ward er sich keines diese Möglichkeiten bestimmenden Zweckes bewußt – wie die christliche Allmenschlichkeit auch nur ein verschwimmendes Gefühl ohne den Anhalt war, der es einzig als ein deutliches Gefühl rechtfertigen konnte, und dieser Anhalt ist der wirkliche Mensch. Somit mußte der Musiker sein ungeheures Schwimmvermögen fast bereuen; er sehnte sich nach den urheimatlichen stillen Buchten zurück, wo zwischen engen Ufern das Wasser ruhig und nach einer bestimmten Stromrichtung floß. Was ihn zu dieser Rückkehr bewog, war nichts anderes als die empfundene Zwecklosigkeit seines Umherschweifens auf hoher See, genaugenommen also das Bekenntnis, eine Fähigkeit zu besitzen, die er nicht zu nutzen vermöge – die Sehnsucht nach dem Dichter. Beethoven, der kühnste Schwimmer, sprach diese Sehnsucht deutlich aus; nicht aber nur jene patriarchalische Melodie stimmte er wieder an, sondern er sprach auch den Dichtervers zu ihr aus. Schon an einer andern Stelle machte ich in diesem letzteren Bezuge auf ein ungemein wichtiges Moment aufmerksam, auf das ich hier zurückkommen muß, weil es uns jetzt zu einem neuen Anhaltspunkte aus dem Gebiete der Erfahrung zu dienen hat. Jene – wie ich sie zur Charakteristik ihrer historischen Stellung fortfahre zu nennen – patriarchalische Melodie, die Beethoven in der »neunten Symphonie« als zur Bestimmung des Gefühles endlich gefundene anstimmt, und von der ich früher behauptete, daß sie nicht aus dem Gedichte Schillers entstanden, sondern daß sie vielmehr außerhalb des Wortverses erfunden, diesem nur übergebreitet worden sei, zeigt sich uns als gänzlich in dem Tonfamilienverhältnisse beschränkt, in welchem sich das alte Nationalvolkslied bewegt. Sie enthält so gut wie gar keine Modulation und erscheint in einer solchen tonleitereigenen Einfachheit, daß sich in ihr die Absicht des Musikers, als eine auf den historischen Quell der Musik rückgängige, unverhohlen deutlich ausspricht. Diese Absicht war eine notwendige für die absolute Musik, die nicht auf der Basis der Dichtkunst steht: der Musiker, der sich nur in Tönen klar verständlich dem Gefühle mitteilen will, kann dieses nur durch Herabstimmung seines unendlichen Vermögens zu einem sehr beschränkten Maße. Als Beethoven jene Melodie aufzeichnete, sagte er: So können wir absoluten Musiker uns einzig verständlich kundgeben. Nicht aber eine Rückkehr zu dem Alten ist der Gang der Entwickelung alles Menschlichen, sondern der Fortschritt: alle Rückkehr zeigt sich uns überall als keine natürliche, sondern als eine künstliche. Auch die Rückkehr Beethovens zu der patriarchalischen Melodie war, wie diese Melodie selbst, eine künstliche. Aber die bloße Konstruktion dieser Melodie war auch nicht der künstlerische Zweck Beethovens; vielmehr sehen wir, wie er sein melodisches Erfindungsvermögen absichtlich nur für einen Augenblick so weit herabstimmt, um auf der natürlichen Grundlage der Musik anzukommen, auf der er dem Dichter seine Hand zuzustrecken oder auch die des Dichters zu ergreifen vermochte. Als er mit dieser einfachen, beschränkten Melodie die Hand des Dichters in der seinigen fühlt, schreitet er nun auf dem Gedichte selbst und aus diesem Gedichte, seinem Geiste und seiner Form nach gestaltend, zu immer kühnerem und mannigfaltigerem Tonbau vorwärts, um uns endlich Wunder, wie wir sie bisher noch nie geahnt, Wunder wie das »Seid umschlungen, Millionen!« »Ahnest du den Schöpfer, Welt?« und endlich das sicher verständliche Zusammenertönen des »Seid umschlungen« mit dem »Freude, schöner Götterfunken!« – aus dem Vermögen der dichtenden Tonsprache entstehen zu lassen. Wenn wir nun den breiten melodischen Bau in der musikalischen Ausführung des ganzen Verses »Seid umschlungen« mit der Melodie vergleichen, die der Meister aus absolutem musikalischen Vermögen über den Vers »Freude, schöner Götterfunken« gleichsam nur ausbreitete, so gewinnen wir ein genaues Verständnis des Unterschiedes zwischen der – wie ich sie nannte – patriarchalischen Melodie und der aus der dichterischen Absicht auf dem Wortverse emporwachsenden Melodie. Wie jene nur im beschränktesten Tonfamilienverhältnisse sich deutlich kundgab, so vermag diese – und zwar nicht nur ohne unverständlich zu werden, sondern gerade erst um dem Gefühle recht verständlich zu sein – die engere Verwandtschaft der Tonart, durch die Verbindung mit wiederum
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