Oper und Drama
Polyphonie , oder bestimmter noch als polyphonische Symphonie .
Die erste und natürliche Symphonie bietet der harmonische Zusammenklang einer gleichartigen polyphonischen Tonmasse. Die natürlichste Tonmasse ist die menschliche Stimme, welche sich nach Geschlecht, Alter und individueller Besonderheit stimmbegabter Menschen in verschiedenartigem Umfange und in mannigfaltiger Klangfarbe zeigt und durch harmonische Zusammenwirkung dieser Individualitäten zur natürlichsten Offenbarerin der polyphonischen Symphonie wird. Die christlich-religiöse Lyrik erfand diese Symphonie: in ihr erschien die Vielmenschlichkeit zu einem Gefühlsausdrucke geeinigt, dessen Gegenstand nicht das individuelle Verlangen als Kundgebung einer Persönlichkeit, sondern das individuelle Verlangen der Persönlichkeit als unendlich verstärkt durch die Kundgebung genau desselben Verlangens durch eine ganz gleich bedürftige Gemeinsamkeit war; und dieses Verlangen war die Sehnsucht nach Auflösung in Gott, der in der Vorstellung personifizierten höchsten Potenz der verlangenden individuellen Persönlichkeit selbst, die zu dieser Steigerung der Potenz einer an sich als nichtig empfundenen Persönlichkeit sich durch das gleiche Verlangen einer Gemeinsamkeit, und durch die innigste harmonische Verschmelzung mit dieser Gemeinsamkeit, gleichsam ermutigte, wie um aus einem gleichgestimmten gemeinsamen Vermögen die Kraft zu ziehen, die der nichtigen einzelnen Persönlichkeit abging. Das Geheimnis dieses Verlangens sollte aber im Verlaufe der Entwickelung der christlichen Menschheit offenbar werden, und zwar als rein individuell persönlicher Inhalt desselben. Als rein individuelle Persönlichkeit hängt der Mensch sein Verlangen aber nicht mehr an Gott, als ein nur Vorgestelltes, sondern er verwirklicht den Gegenstand seines Verlangens zu einem Realen, sinnlich Vorhandenen, dessen Erwerbung und Genuß ihm praktisch zu ermöglichen ist. Mit dem Erlöschen des rein religiösen Geistes des Christentumes verschwand auch eine notwendige Bedeutung des polyphonischen Kirchengesanges, und mit ihr die eigentümliche Form seiner Kundgebung. Der Kontrapunkt, als erste Regung des immer klarer auszusprechenden reinen Individualismus, begann mit scharfen, ätzenden Zähnen das einfach symphonische Vokalgewebe zu zerreißen und machte es immer ersichtlicher zu einem oft nur mühsam noch zu erhaltenden künstlichen Zusammenklang innerlich unübereinstimmender, individueller Kundgebungen. – In der Oper endlich löste sich das Individuum vollständig aus dem Vokalvereine los, um als reine Persönlichkeit ganz ungehindert, allein und selbständig sich kundzugeben. Da, wo sich dramatische Persönlichkeiten zum mehrstimmigen Gesange anließen, geschah dies – im eigentlichen Opernstile – zur sinnlich wirksamen Verstärkung des individuellen Ausdruckes oder – im wirklich dramatischen Stile – als, durch die höchste Kunst vermittelte, gleichzeitige Kundgebung fortgesetzt sich behauptender charakteristischer Individualitäten.
Fassen wir nun das Drama der Zukunft in das Auge, wie wir es uns als Verwirklichung der von uns bestimmten dichterischen Absicht vorzustellen haben, so gewahren wir in ihm nirgends Raum zur Aufstellung von Individualitäten von so untergeordneter Beziehung zum Drama, daß sie zu dem Zwecke polyphonischer Wahrnehmbarmachung der Harmonie, durch nur musikalisch symphonierende Teilnahme an der Melodie der Hauptperson, verwendet werden könnten. Bei der Gedrängtheit und Verstärkung der Motive, wie der Handlungen, können nur Teilnehmer an der Handlung gedacht werden, die aus ihrer notwendigen individuellen Kundgebung einen jederzeit entscheidenden Einfluß auf dieselbe äußern – also nur Persönlichkeiten, die wiederum zur musikalischen Kundgebung ihrer Individualität einer mehrstimmigen symphonischen Unterstützung, das ist: Verdeutlichung ihrer Melodie, bedürfen, keinesweges aber – außer in nur selten erscheinenden, vollkommen gerechtfertigten und zum höchsten Verständnisse notwendigen Fällen – zur bloß harmonischen Rechtfertigung der Melodie einer anderen Person dienen können. – Selbst der bisher in der Oper verwendete Chor wird nach der Bedeutung, die ihm in den noch günstigsten Fällen dort beigelegt ward, in unsrem Drama zu verschwinden haben; auch er ist nur von lebendig überzeugender Wirkung im Drama, wenn ihm die bloß massenhafte Kundgebung vollständig benommen wird. Eine Masse kann uns nie interessieren, sondern
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