Oper und Drama
bloß verblüffen: nur genau unterscheidbare Individualitäten können unsre Teilnahme fesseln. Auch der zahlreicheren Umgebung, da wo sie nötig ist, den Charakter individueller Teilnahme an den Motiven und Handlungen des Dramas beizulegen ist die notwendige Sorge des Dichters, der überall nach deutlichster Verständlichkeit seiner Anordnungen ringt: nichts will er verdecken, sondern alles enthüllen. Er will dem Gefühle, an das er sich mitteilt, den ganzen lebendigen Organismus einer menschlichen Handlung erschließen und erreicht dies nur, wenn er diesen Organismus ihm überall in der wärmsten, selbsttätigsten Kundgebung seiner Teile vorführt. Die menschliche Umgebung einer dramatischen Handlung muß uns so erscheinen, als ob diese besondere Handlung und die in ihr begriffene Person uns nur deshalb über die Umgebung hervorragend sich darstelle, weil sie in ihrem Zusammenhange mit dieser Umgebung uns gerade von der einen, dem Beschauer zugewandten Seite, und unter der Beleuchtung gerade dieses, jetzt so fallenden Lichtes, uns gezeigt wird. Unser Gefühl muß in dieser Umgebung aber so bestimmt sein, daß wir durch die Annahme nicht verletzt werden können, ganz von derselben Stärke und Teilnahmerregungsfähigkeit würde eine Handlung und die in ihr begriffene Person sein, die sich uns zeigten, wenn wir den Schauplatz von einer anderen Seite her, und von einem anderen Lichte beleuchtet, betrachteten. Die Umgebung nämlich muß sich unsrem Gefühle so darstellen, daß wir jedem Gliede derselben unter anderen als den nun einmal gerade so bestimmten Umständen die Fähigkeit zu Motiven und Handlungen beimessen können, die unsre Teilnahme ebenso fesseln würden als die gegenwärtig unsrer Beachtung zunächst zugewandten. Das, was der Dichter in den Hintergrund stellt, tritt nur dem notwendigen Gesichtsstandpunkte des Zuschauers gegenüber zurück, der eine zu reich gegliederte Handlung nicht übersehen können würde, und dem der Dichter deshalb nur die eine, leicht faßliche Physiognomie des darzustellenden Gegenstandes zukehrt. – Die Umgebung ausschließlich zu einem lyrischen Momente machen, müßte sie im Drama unbedingt herabsetzen, indem dies Verfahren der Lyrik selbst zugleich eine ganz falsche Stellung im Drama zuweisen müßte. Der lyrische Erguß soll im Drama der Zukunft, dem Werke des Dichters, der aus dem Verstande an das Gefühl sich mitteilt, wohlbedingt aus den vor unsren Augen zusammengedrängten Motiven erwachsen, nicht aber von vornherein unmotiviert sich ausbreiten. Der Dichter dieses Dramas will nicht aus dem Gefühle zu dessen Rechtfertigung vorschreiten, sondern das aus dem Verstande gerechtfertigte Gefühl selbst geben: diese Rechtfertigung geht vor unsrem Gefühle selbst vor sich und bestimmt sich aus dem Wollen der Handelnden zum unwillkürlich notwendigen Müssen, d. i. Können; der Moment der Verwirklichung dieses Wollens durch das unwillkürliche Müssen zum Können ist der lyrische Erguß in seiner höchsten Stärke als Ausmündung in die Tat. Das lyrische Moment hat daher aus dem Drama zu wachsen, aus ihm als notwendig erscheinend sich zu bedingen. Die dramatische Umgebung kann somit nicht unbedingt im Gewande der Lyrik erscheinen, wie es in unsrer Oper der Fall war, sondern auch sie hat sich erst zur Lyrik zu steigern, und zwar durch ihre Teilnahme an der Handlung, für welche sie uns nicht als lyrische Masse, sondern als wohlunterschiedene Gliederung selbständiger Individualitäten zu überzeugen hat.
Nicht der sogenannte Chor also, noch auch die handelnden Hauptpersonen selbst, sind vom Dichter als musikalisch symphonierender Tonkörper zur Wahrnehmbarmachung der harmonischen Bedingungen der Melodie zu verwenden. In der Blüte des lyrischen Ergusses, bei vollkommen bedingtem Anteile aller handelnden Personen und ihrer Umgebung an einem gemeinschaftlichen Gefühlsausdrucke, bietet sich einzig dem Tondichter die polyphonische Vokalmasse dar, der er die Wahrnehmbarmachung der Harmonie übertragen kann: auch hier jedoch wird es die notwendige Aufgabe des Tondichters bleiben, den Anteil der dramatischen Individualitäten an dem Gefühlsergusse nicht als bloße harmonische Unterstützung der Melodie kundzugeben, sondern – gerade auch im harmonischen Zusammenklange – die Individualität des Beteiligten in bestimmter, wiederum melodischer Kundgebung sich kenntlich machen zu lassen; und eben hierin wird sein höchstes, durch den Standpunkt unsrer musikalischen Kunst ihm
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