Oper und Drama
Empfindungsfähigkeit des Auges nun über die ganze äußere Gestalt des wahrzunehmenden Menschen, auf seine Erscheinung, Haltung und Gebärde, so haben wir zu bestätigen, daß das Auge die Äußerung dieses Menschen untrüglich erfaßt und versteht, sobald er eben nach vollständiger Unwillkürlichkeit sich kundgibt, innerlich mit sich vollkommen einig ist, und seine innere Stimmung in höchster Aufrichtigkeit äußert. Die Momente, in denen sich der Mensch so wahrhaftig kundgibt, sind aber nur die der vollkommensten Ruhe oder der höchsten Erregtheit: was zwischen diesen beiden äußersten Punkten liegt, sind die Übergänge, die ganz in dem Grade nur von der aufrichtigen Leidenschaft bestimmt werden, als sie sich ihrer höchsten Erregtheit nähern oder von dieser Erregtheit sich wieder einer harmonisch versöhnten Ruhe zuwenden. Diese Übergänge bestehen aus einer Mischung willkürlicher, reflektierter Willenstätigkeit und unbewußter, notwendiger Empfindung: die Bestimmung solcher Übergänge nach der notwendigen Richtung der unwillkürlichen Empfindung hin, und zwar mit unerläßlichem Fortschritte zur Ausmündung in die wahre, vom reflektierenden Verstande nicht mehr bedingte und gehemmte Empfindung, ist der Inhalt der dichterischen Absicht im Drama, und für diesen Inhalt findet der Dichter eben den einzig ermöglichenden Ausdruck in der Wortversmelodie, wie sie als Blüte der Worttonsprache erscheint, die mit der einen Seite dem reflektierenden Verstande, mit der andren Seite aber der unwillkürlichen Empfindung als Organ zugewandt ist. Die Gebärde – verstehen wir hierunter die ganze äußere Kundgebung der menschlichen Erscheinung an das Auge – nimmt an dieser Entwickelung einen nur bedingten Anteil, weil sie nur eine Seite hat, und zwar die Empfindungsseite, mit der sie sich dem Auge zuwendet: die Seite, die sie aber dem Auge verbirgt, ist eben diejenige, welche die Worttonsprache dem Verstande zukehrt und die demnach dem Gefühle ganz unkenntlich bleiben würde, wenn dem Gehöre dadurch, daß die Worttonsprache mit ihren beiden Seiten, wiewohl mit der einen schwächer und minder erregend, sich ihm zuwendet, nicht das gesteigerte Vermögen erwachsen könnte, auch diese, dem Auge abgewandte Seite, dem Gefühle verständlich zuzuführen.
Die Sprache des Orchesters vermag dies durch das Gehör, indem sie sich durch ebenso innige Anlehnung an die Versmelodie wie zuvor an die Gebärde zur Mitteilung selbst des Gedankens an das Gefühl steigert, und zwar des Gedankens, den die gegenwärtige Versmelodie – als Kundgebung einer gemischten, noch nicht vollkommen geeinigten Empfindung – nicht aussprechen kann und will, der noch weniger aber von der Gebärde dem Auge mitgeteilt werden kann, weil die Gebärde das Gegenwärtigste ist und somit von der in der Versmelodie kundgegebenen unbestimmten Empfindung, als eine ebenfalls unbestimmte oder diese Unbestimmtheit allein ausdrückende, dem Auge somit die wirkliche Empfindung nicht klar verständlichende, bedingt wird.
In der Versmelodie verbindet sich nicht nur die Wortsprache mit der Tonsprache, sondern auch das von diesen beiden Organen Ausgedrückte, nämlich das Ungegenwärtige mit dem Gegenwärtigen, der Gedanke mit der Empfindung. Das Gegenwärtige in ihr ist die unwillkürliche Empfindung, wie sie sich notwendig in den Ausdruck der musikalischen Melodie ergießt; das Ungegenwärtige ist der abstrakte Gedanke, wie er in der Wortphrase als reflektiertes, willkürliches Moment festgehalten wird. – Bestimmen wir uns nun näher, was wir unter dem Gedanken zu verstehen haben.
Auch hier werden wir schnell zu einer klaren Vorstellung gelangen, wenn wir den Gegenstand vom künstlerischen Standpunkte aus erfassen und seinem sinnlichen Ursprunge auf den Grund gehen.
Etwas, was wir durch irgendein Mitteilungsorgan oder durch die Gesamtverwendung aller unserer Mitteilungsorgane gar nicht aussprechen können , selbst wenn wir es wollten , ist ein Unding – das Nichts. Alles, wofür wir dagegen einen Ausdruck finden, ist auch etwas Wirkliches, und dieses Wirkliche erkennen wir, wenn wir uns den Ausdruck selbst erklären, den wir unwillkürlich für die Sache verwenden. Der Ausdruck: Gedanke ist ein sehr leicht erklärlicher, sobald wir auf seine sinnliche Sprachwurzel zurückgehen. Ein »Gedanke« ist das im »Gedenken« uns »dünkende« Bild [Fußnote: Ähnlich können wir uns »Geist« sehr schön aus der ihm gleichen Wurzel »gießen« deuten: nach
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