Oper und Drama
steigert, bedarf er notwendig auch einer Steigerung der von ihm bedingten Gebärde über das Maß der gewöhnlichen Redegebärde. Diese Gebärde ist aber, dem Charakter des Dramas gemäß, nicht nur die monologische Gebärde eines einzelnen Individuums, sondern eine aus der charakteristisch beziehungsvollen Begegnung vieler Individuen zur höchsten Mannigfaltigkeit sich steigernde – sozusagen: »vielstimmige« Gebärde. Die dramatische Absicht zieht nicht nur die innere Empfindung – an sich – in ihr Bereich, sondern, um ihrer Verwirklichung willen, ganz besonders die Kundgebung dieser Empfindung in der äußeren leiblichen Erscheinung der darstellenden Personen. Die Pantomime begnügte sich für Gestalt, Haltung und Tracht der Darsteller mit typischen Masken: das allvermögende Drama reißt den Darstellern die typische Maske ab – denn es besitzt dazu das rechtfertigende Sprachvermögen – und zeigt sie als besondere, gerade so und nicht anders sich kundgebende Individualitäten. Die dramatische Absicht bestimmt daher bis in den einzelnsten Zug Gestalt, Miene, Haltung, Bewegung und Tracht des Darstellers, um ihn jeden Augenblick als diese eine, schnell und bestimmt kenntliche, von allen ihr Begegnenden wohl unterschiedene Individualität erscheinen zu lassen. Diese drastische Unterscheidbarkeit der einen Individualität ist aber nur zu ermöglichen, wenn alle ihr begegnenden und auf sie sich beziehenden Individualitäten genau in derselben, sicher bestimmten, drastischen Unterscheidbarkeit sich darstellen. Vergegenwärtigen wir uns nun die Erscheinung solcher scharf abgegrenzten Individualitäten in den unendlich wechselvollen Beziehungen zueinander, aus denen die mannigfaltigen Momente und Motive der Handlung sich entwickeln, und stellen wir sie uns nach dem unendlich erregenden Eindrucke vor, den ihr Anblick auf unser machtvoll gefesseltes Auge hervorbringen muß, so begreifen wir auch das Bedürfnis des Gehöres nach einem, diesem Eindrucke auf das Auge vollkommen entsprechenden, ihm wiederum verständlichen Eindrucke, in welchem der erste ergänzt, gerechtfertigt oder verdeutlicht erscheint; denn: »durch zweier Zeugen Mund wird (erst) die (volle) Wahrheit kund.«
Das, was dem Gehöre zu vernehmen verlangt, ist aber genau das Unaussprechliche des vom Auge empfangenen Eindruckes, das, was an sich und in seiner Bewegung die dichterische Absicht durch ihr nächstes Organ, die Wortsprache, nur veranlaßte, nicht aber dem Gehöre überzeugend nun mitteilen kann. Wäre dieser Anblick für das Auge gar nicht vorhanden, so könnte die dichterische Sprache sich berechtigt fühlen, die Schilderung und Beschreibung des Eingebildeten an die Phantasie mitzuteilen; wenn es sich aber dem Auge, wie die höchste dichterische Absicht es verlangte, selbst unmittelbar darbietet, ist die Schilderung der dichterischen Sprache nicht nur vollkommen überflüssig, sondern sie würde auch gänzlich eindruckslos auf das Gehör bleiben. Das ihr Unaussprechliche teilt dem Gehöre nun aber gerade die Sprache des Orchesters mit, und eben aus dem Verlangen des durch das schwesterliche Auge angeregten Gehöres gewinnt diese Sprache ein neues, unermeßliches, ohne diese Anregung stets aber schlummerndes oder – wenn aus eigenem Drange allein erweckt – unverständlich sich kundgebendes, Vermögen.
Das Sprachvermögen des Orchesters lehnt sich auch für die hier bestimmte gesteigerte Aufgabe zunächst noch an seine Verwandtschaft mit dem der Gebärde so an, wie wir sie vom Tanze aus kennenlernten. Es spricht in Tonfiguren, wie sie dem individuellen Charakter besonders entsprechender Instrumente eigentümlich sind und durch wiederum entsprechende Mischung der charakteristischen Individualitäten des Orchesters zur eigentümlichen Orchestermelodie sich gestalten, das in seiner sinnlichen Erscheinung und durch die Gebärde an das Auge sich Kundgebende so weit aus, als zur Deutung dieser Gebärde und Erscheinung auch für das Verständnis des Auges, wie zur entsprechend verständlichen Deutung derselben Erscheinung für das unmittelbar erfassende Gehör, eben kein Drittes, nämlich die vermittelnde Wortsprache nötig war.
Bestimmen wir uns hierüber genau. – Wir sagen gemeinhin: »Ich lese in deinem Auge«; das heißt: »Mein Auge gewahrt, auf eine nur ihm verständliche Weise, aus dem Blicke deines Auges eine dir inwohnende unwillkürliche Empfindung, die ich wiederum unwillkürlich mitempfinde.« – Erstrecken wir die
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