Oper und Drama
Eine solche Melodie, wie sie als Erguß einer Empfindung uns vom Darsteller mitgeteilt worden ist, verwirklicht uns, wenn sie vom Orchester ausdrucksvoll da vorgetragen wird, wo der Darsteller jene Empfindung nur noch in der Erinnerung hegt, den Gedanken dieses Darstellers; ja, selbst da, wo der gegenwärtig sich Mitteilende jener Empfindung sich gar nicht mehr bewußt erscheint, vermag ihr charakteristisches Erklingen im Orchester in uns eine Empfindung anzuregen, die zur Ergänzung eines Zusammenhanges, zur höchsten Verständlichkeit einer Situation durch Deutung von Motiven, die in dieser Situation wohl enthalten sind, in ihren darstellbaren Momenten aber nicht zum hellen Vorschein kommen können, uns zum Gedanken wird, an sich aber mehr als der Gedanke, nämlich der vergegenwärtigte Gefühlsinhalt des Gedankens ist.
Das Vermögen des Musikers, wenn es von der dichterischen Absicht zu ihrer höchsten Verwirklichung verwendet wird, ist hierin durch das Orchester unermeßlich. – Ohne von der dichterischen Absicht bedingt zu werden, hat der absolute Musiker bisher auch bereits sich eingebildet, mit Gedanken und der Kombination von Gedanken zu tun zu haben. Wenn schlechtweg musikalische Themen »Gedanken« genannt wurden, so war dies entweder eine gedankenlose Verwendung dieses Wortes oder eine Kundgebung der Täuschung des Musikers, der ein Thema einen Gedanken nannte, bei dem er sich allerdings etwas gedacht hatte, was aber niemand verstand als höchstens der, dem er das, was er sich gedacht hatte, in nüchternen Worten bezeichnete und den er dadurch ersuchte, sich dies Gedachte nun auch bei dem Thema zu denken. Die Musik kann nicht denken; sie kann aber Gedanken verwirklichen, d. h. ihren Empfindungsinhalt als einen nicht mehr erinnerten, sondern vergegenwärtigten kundtun: dies kann sie aber nur, wenn ihre eigene Kundgebung von der dichterischen Absicht bedingt ist und diese wiederum sich nicht als eine nur gedachte, sondern zunächst durch das Organ des Verstandes, die Wortsprache, klar dargelegte offenbart. Ein musikalisches Motiv kann auf das Gefühl einen bestimmten, zu gedankenhafter Tätigkeit sich gestaltenden Eindruck nur dann hervorbringen, wenn die in dem Motive ausgesprochene Empfindung vor unsren Augen von einem bestimmten Individuum an einem bestimmten Gegenstande, als ebenfalls bestimmte, d. h. wohlbedingte, kundgegeben ward. Der Wegfall dieser Bedingungen stellt ein musikalisches Motiv dem Gefühle als etwas Unbestimmtes hin, und etwas Unbestimmtes kann in derselben Erscheinung noch so oft wiederkehren, es bleibt uns immer ein eben nur wiederkehrendes Unbestimmtes, das wir aus einer von uns empfundenen Notwendigkeit seiner Erscheinung nicht zu rechtfertigen und daher mit nichts anderem zu verbinden imstande sind. – Das musikalische Motiv aber, in das – sozusagen – vor unsren Augen der gedankenhafte Wortvers eines dramatischen Darstellers sich ergoß, ist ein notwendig bedingtes; bei seiner Wiederkehr teilt sich uns eine bestimmte Empfindung wahrnehmbar mit, und zwar wiederum als die Empfindung desjenigen, der sich soeben zur Kundgebung einer neuen Empfindung gedrängt fühlt, die aus jener – jetzt von ihm unausgesprochenen, uns aber durch das Orchester sinnlich wahrnehmbar gemachten – sich herleitet. Das Mitklingen jenes Motives verbindet uns daher eine ungegenwärtige bedingende mit der aus ihr bedingten, soeben zu ihrer Kundgebung sich anlassenden Empfindung; und indem wir so unser Gefühl zum erhellten Wahrnehmer des organischen Wachsens einer bestimmten Empfindung aus der andern machen, geben wir unsrem Gefühle das Vermögen des Denkens, d. h. hier aber: das über das Denken erhöhte, unwillkürliche Wissen des in der Empfindung verwirklichten Gedankens.
Bevor wir uns zur Darstellung der Ergebnisse wenden, die aus dem bisher angedeuteten Vermögen der Orchestersprache für die Gestaltung des Dramas sich herausstellen, müssen wir, um den Umfang dieses Vermögens vollständig zu ermessen, noch über eine äußerste Fähigkeit desselben uns genau bestimmen. – Die hiermit gemeinte Fähigkeit seines Sprachvermögens gewinnt das Orchester aus einer Vereinigung seiner Fähigkeiten, die ihm nach der einen Seite hin durch seine Anlehnung an die Gebärde, nach der anderen durch seine gedenkende Aufnahme der Versmelodie erwuchsen. Wie die Gebärde von ihrem Ursprunge, der sinnlichsten Tanzgebärde, bis zur geistigsten Mimik sich entwickelte; wie die Versmelodie vom bloßen
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