Oper und Drama
Gebärungsprozesse ihm Vorzuführendes begreifen mußten: so haben wir auch die dramatische Situation aus den Bedingungen herauswachsend uns vorzustellen, die sich vor unsren Augen zu der Höhe steigern, auf welcher die Versmelodie als einzig entsprechender Ausdruck eines bestimmt sich kundgebenden Empfindungsmomentes uns notwendig erscheint.
Eine fertige, geschaffene Melodie – so sahen wir – blieb uns unverständlich, weil willkürlich deutbar; eine fertige, geschaffene Situation muß uns ebenso unverständlich bleiben, wie die Natur uns unverständlich blieb, solange wir sie als etwas Erschaffenes ansahen, wogegen sie uns jetzt verständlich ist, wo wir sie als das Seiende, d. h. das ewig Werdende erkennen – als ein Seiendes, dessen Werden in nächsten und weitesten Kreisen uns stets gegenwärtig ist. Dadurch, daß der Dichter sein Kunstwerk uns im steten organischen Werden vorführt und uns selbst zu organisch mitwirkenden Zeugen dieses Werdens macht, befreit er seine Schöpfung eben von allen Spuren seines Schaffens, vermöge dessen er, ohne die Vertilgung seiner Spuren, uns nur in das gefühllos kalte Staunen versetzen könnte, mit dem uns das Anschauen eines Meisterstückes der Mechanik erfüllt. – Die bildende Kunst kann nur das Fertige, d. h. das Bewegungslose hinstellen und den Beschauenden somit nie zum überzeugten Zeugen des Werdens einer Erscheinung machen. Der absolute Musiker verfiel in seiner weitesten Verirrung in den Fehler, der bildenden Kunst hierin nachzuahmen und das Fertige anstatt des Werdenden zu geben. Das Drama allein ist das räumlich und zeitlich an unser Auge und unser Gehör so sich mitteilende Kunstwerk, daß wir an seinem Werden selbsttätigen Mitanteil nehmen und das Gewordene daher als ein Notwendiges, klar Verständliches durch unser Gefühl erfassen.
Der Dichter, der uns nun zu mittätigen, einzig ermöglichenden Zeugen des Werdens seines Kunstwerkes machen will, hat sich wohl zu hüten, auch nur den kleinsten Schritt zu tun, der das Band des organischen Werdens zerreißen und somit unser unwillkürlich gefesseltes Gefühl durch willkürliche Zumutung verletzen könnte: sein wichtigster Bundesgenosse wäre ihm augenblicklich untreu gemacht. Organisches Werden ist aber nur das Wachsen von unten nach oben, das Hervorgehen aus niederern Organismen zu höheren, die Verbindung bedürftiger Momente zu einem befriedigenden Momente. Wie nun die dichterische Absicht die Momente der Handlung und ihre Motive aus solchen sammelte, die im gewöhnlichen Leben wirklich, nur ihrem Zusammenhange nach unendlich ausgedehnt und unübersehbar weit verzweigt, vorhanden sind; wie sie diese Momente und Motive um einer verständlichen Darstellung willen zusammendrängte und in dieser Zusammendrängung verstärkte: so hat die dichterische Absicht um ihrer Verwirklichung willen genau ebenso zu Werke zu gehen, wie sie in der gedachten Dichtung jener Momente verfuhr; denn ihre Absicht verwirklicht sich nur dadurch, daß sie unser Gefühl zur Teilhaberin an ihrer gedachten Dichtung macht. – Das Allerfaßlichste ist dem Gefühle unsre Anschauung des gewöhnlichen Lebens, in welchem wir aus Neigung und Bedürfnis geradeso handeln, wie wir es gewohnt sind. Sammelte der Dichter daher aus diesem Leben und der ihm gewohnten Anschauung seine Motive, so hat er auch seine gedichteten Gestalten zunächst uns nach einer Äußerung vorzufahren, die diesem Leben nicht so fremd ist, daß sie von den in ihm Befangenen gar nicht verstanden werden könnte. Er hat sie daher uns zuerst in Lebenslagen zu zeigen, die eine kenntliche Ähnlichkeit mit denen haben, in denen wir uns selbst befunden haben oder doch befunden haben können; auf solcher Grundlage erst kann er stufenweise zur Bildung von Situationen aufsteigen, deren Kraft und Wunderbarkeit uns eben aus dem gewöhnlichen Leben herausversetzen und den Menschen uns nach der höchsten Fülle seines Vermögens zeigen. Wie diese Situationen durch die Fernhaltung alles zufällig Erscheinenden in der Begegnung stark kundgegebener Individualitäten zu der Höhe wachsen, auf der sie uns über das gewöhnliche menschliche Maß erhoben scheinen – so hat notwendig auch der Ausdruck der Handelnden und Leidenden sich aus einem dem gewöhnlichen Leben noch kenntlichen, nur mit wohlbedingter Steigerung zu einem solchen zu erheben, wie wir ihn in der musikalischen Versmelodie als einen über den gewöhnlichen Ausdruck erhöhten bezeichneten.
Es gilt nun aber den Punkt zu
Weitere Kostenlose Bücher