Oper und Drama
bestimmen, den wir als den niedrigsten für die Situation und den Ausdruck festzusetzen haben und von dem wir zu jenem Wachsen vorschreiten sollen. Betrachten wir näher, so wird dieser Punkt genau derselbe sein, auf den wir uns stellen müssen, um die Verwirklichung der dichterischen Absicht durch Mitteilung derselben überhaupt zu ermöglichen, und dieser liegt da, wo die dichterische Absicht sich vom gewöhnlichen Leben, aus dem sie hervorging, trennt, um sein gedichtetes Bild ihm vorzuhalten. Auf diesem Punkte stellt sich der Dichter mit dem lauten Bekenntnisse seiner Absicht den im gewöhnlichen Leben Befangenen gegenüber und ruft sie zur Aufmerksamkeit auf: er kann nicht eher vernommen werden, als bis diese Aufmerksamkeit ihm willig zugewandt ist – bis unsre durch das gewöhnliche Leben zerstreuten Empfindungen sich zu einer gedrängten, erwartungsvollen Empfindung ebenso sammeln, wie der Dichter in seiner Absicht bereits die Momente und Motive der dramatischen Handlung aus diesem selben Leben gesammelt hat. Die willige Erwartung oder der erwartungsvolle Wille der Zuhörer ist nun das erste ermöglichende Moment für das Kunstwerk, und es bestimmt den Ausdruck, in welchem der Dichter ihm entsprechen muß – nicht nur um verstanden zu werden, sondern um zugleich so verstanden zu werden, wie die Spannung auf etwas Außergewöhnliches es verlangt.
Diese Erwartung hat der Dichter von vornherein für die Kundgebung seiner Absicht zu benutzen, und zwar dadurch, daß er sie – als eine unbestimmte Empfindung – nach der Richtung seiner Absicht hin lenkt, und keine Sprache ist, wie wir sahen, hierzu vermögender als die unbestimmt bestimmende der reinen Musik, des Orchesters. Das Orchester drückt die erwartungsvolle Empfindung selbst aus, die uns vor der Erscheinung des Kunstwerkes beherrscht; je nach der Richtung hin, wo es der dichterischen Absicht entspricht, leitet und erregt es unsre allgemein gespannte Empfindung zu einer Ahnung, die eine als notwendig geforderte, bestimmte Erscheinung endlich zu erfüllen hat. [Fußnote: Daß ich hiermit nicht die heutige Opernouvertüre meine, habe ich an diesem Orte nur kurzweg zu berühren: jeder Verständige weiß, daß diese Tonstücke – sobald in ihnen überhaupt etwas zu verstehen war – anstatt vor dem Drama, nach demselben vorgetragen werden müßten, um verstanden zu werden. Die Eitelkeit verführte den Musiker, in der Ouvertüre – und zwar im glücklichsten Falle – die Ahnung schon mit absolut musikalischer Gewißheit über den Gang des Dramas erfüllen zu wollen.] Führt der Dichter nun die erwartete Erscheinung auf der Szene als dramatische Person vor, so würde es das angeregte Gefühl nur verletzten und enttäuschen, wenn diese in einem Sprachausdrucke sich kundgeben sollte, der uns plötzlich wieder die gewöhnlichste Äußerung des Lebens zurückriefe, aus dem wir soeben versetzt waren. [Fußnote: Die stets noch beibehaltene Zwischenaktmusik in den Schauspielen ist ein beredtes Zeugnis von der Kunstgedankenlosigkeit unsrer Schauspiel-Dichter und Anordner.] In der Sprache, die unsre Empfindung anregte, soll auch jene Person sich nun kundgeben, und zwar als eine solche, auf die eben unsre Empfindung hingeleitet war. In dieser Tonsprache muß die dramatische Person sprechen, sollen wir sie mit dem angeregten Gefühle verstehen: sie muß in ihr aber zugleich so sprechen, daß sie die in uns angeregte Empfindung zu bestimmen vermag, und unsre allgemeinhin angeregte Empfindung bestimmt sich nur dadurch, daß ihr ein fester Punkt gegeben wird, um welchen sie sich als menschliches Mitgefühl sammeln, und an welchem sie zur besonderen Teilnahme an diesem einen, in dieser bestimmten Lebenslage befindlichen, von dieser Umgebung beeinflußten, von diesem Willen beseelten und in diesem Vorhaben begriffenen Menschen sich verdichten kann. Diese, dem Gefühle notwendigen Bedingungen der Kundgebung einer Individualität können überzeugend nur in der Wortsprache dargelegt werden, in derselben Sprache, die dem gewöhnlichen Leben unwillkürlich verständlich ist und in welcher wir uns gegenseitig eine Lage und einen Willen mitteilen, denen diejenigen ähnlich sein müssen, die die dramatische Person uns jetzt darlegt, sobald sie von uns verstanden werden sollen. Wie unsre erregte Stimmung aber bereits forderte, daß diese Wortsprache eine von der Tonsprache, die unsre Empfindung eben erregte, nicht durchaus unterschiedene sein dürfe, sondern mit ihr bereits
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