Oper und Drama
universellsten Fähigkeit, die Äußerungen der umgebenden Welt aufzunehmen, gewinnt, zugleich sein Innerstes am überzeugendsten uns kundgibt. So ist die Melodie der vollendetste Ausdruck des inneren Wesens der Musik, und jede wahre, durch dieses innerste Wesen bedingte Melodie spricht auch durch jenes Auge zu uns, das am ausdrucksvollsten dieses Innere uns mitteilt, aber immer so, daß wir eben nur den Strahl des Augsternes, nicht jenen inneren, an sich noch formlosen Organismus in seiner Nacktheit erblicken.
Wo das Volk Melodien erfand, verfuhr es, wie der leiblich natürliche Mensch, der durch den unwillkürlichen Akt geschlechtlicher Begattung den Menschen erzeugt und gebiert, und zwar den Menschen, der, wenn er an das Licht des Tages gelangt, fertig ist, sogleich durch seine äußere Gestalt, nicht aber etwa erst durch seinen aufgedeckten inneren Organismus sich kundgibt. Die griechische Kunst faßte diesen Menschen noch vollkommen nur nach seiner äußeren Gestalt auf, und bemühte sich, sie auf das getreueste und lebendigste – endlich in Stein und Erz – nachzubilden. Das Christentum dagegen verfuhr anatomisch: es wollte die Seele des Menschen auffinden, öffnete und zerschnitt den Leib und deckte all den formlosen inneren Organismus auf, der unsern Blick anwiderte, eben weil er nicht für das Auge da ist oder da sein soll. Im Aufsuchen der Seele hatten wir aber den Leib getötet; als wir auf den Quell des Lebens treffen wollten, vernichteten wir die Äußerung dieses Lebens, und gelangten so nur auf tote Innerlichkeiten, die eben nur bei vollkommen ununterbrochener Äußerungsmöglichkeit Bedingungen des Lebens sein konnten. Die aufgesuchte Seele ist aber in Wahrheit nichts anderes als das Leben : was der christlichen Anatomie zu betrachten übrig blieb, war daher nur – der Tod .
Das Christentum hatte die organische künstlerische Lebensregung des Volkes, seine natürliche Zeugungskraft erstickt: es hatte in sein Fleisch geschnitten, und mit dem dualistischen Seziermesser auch seinen künstlerischen Lebensorganismus zerstört. Die Gemeinsamkeit, in der sich allein die künstlerische Zeugungskraft des Volkes bis zum Vermögen vollendeter Kunstschöpfung erheben kann, gehörte dem Katholizismus: nur in der Einsamkeit, da, wo Volksbruchteile – abgelegen von der großen Heerstraße des gemeinsamen Lebens – mit sich und der Natur sich allein fanden, erhielt sich in kindlicher Einfalt und dürftiger Beschränktheit das mit der Dichtung untrennbar verwachsene Volkslied .
Sehen wir zunächst von diesem ab, so gewahren wir dagegen auf dem Gebiete der Kulturkunst die Musik einen unerhört neuen Entwickelungsgang nehmen: nämlich den aus ihrem anatomisch zerlegten, innerlich getöteten Organismus heraus zu neuer Lebensentfaltung durch Zusammenfügung und neues Verwachsenlassen der getrennten Organe. – Im christlichen Kirchengesange hatte sich die Harmonie selbständig ausgebildet. Ihr natürliches Lebensbedürfnis drängte sie mit Notwendigkeit zur Äußerung als Melodie; sie bedurfte zu dieser Äußerung aber unerläßlich des Anhaltes an das Form und Bewegung gebende Organ des Rhythmos, das sie als ein willkürliches, fast mehr eingebildetes als wirkliches Maß dem Tanze entnahm. Die neue Vereinigung konnte nur eine künstliche sein. Wie die Dichtkunst nach den Regeln, die Aristoteles von den Tragikern abstrahiert hatte, konstruiert wurde, so mußte die Musik nach wissenschaftlichen Annahmen und Normen hergerichtet werden. Es war dies in der Zeit, wo nach gelehrten Rezepten und aus chemischen Dekokten sogar Menschen gemacht werden sollten. Einen solchen Menschen suchte auch die gelehrte Musik zu konstruieren: der Mechanismus sollte den Organismus herstellen, oder doch ersetzen. Der rastlose Trieb all dieser mechanischen Erfindsamkeit ging in Wahrheit aber doch immer nur auf den wirklichen Menschen hinaus, auf den Menschen, der aus dem Begriffe wiederhergestellt, somit endlich zum wirklich organischen Leben wieder erwachen sollte. – Wir berühren hier den ganzen ungeheuren Entwickelungsgang der modernen Menschheit! –
Der Mensch, den die Musik herstellen wollte, war in Wirklichkeit aber nichts anderes als die Melodie , d. h. das Moment bestimmtester, überzeugendster Lebensäußerung des wirklich lebendigen, inneren Organismus der Musik. Je weiter sich die Musik in diesem notwendigen Verlangen nach Menschwerdung entwickelt, sehen wir mit immer größerer Entschiedenheit das Streben nach deutlicher
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