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Oper und Drama

Oper und Drama

Titel: Oper und Drama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wagner
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entnahm. Zur Zeit des Aufschwunges der deutschen Schauspielkunst – um die Mitte des vorigen Jahrhunderts – bildete diese Grundlage der, dem damaligen Volksgeiste entsprechende, bürgerliche Roman. Er war unendlich gefügiger und namentlich bei weitem weniger reich an Stoff als der historische oder sagenhafte Roman, der Shakespeare vorlag: eine ihm entsprechende Darstellung der lokalen Szene konnte somit auch mit viel wenigerem Aufwande hergestellt werden, als es für die Shakespearesche Dramatisierung des Romanes erforderlich gewesen wäre. Die von diesen Schauspielern aufgenommenen Shakespeareschen Stücke mußten sich nach jeder Seite hin, um von ihnen darstellbar zu werden, die beschränkendste Umarbeitung gefallen lassen. Ich übergehe hier alle für diese Umarbeitung maßgebenden Gründe und hebe nur den einen, den des rein szenischen Erfordernisses, heraus, weil er für den Zweck meiner Untersuchung für jetzt der wichtigste ist. Jene Schauspieler, die ersten Übersiedler des Shakespeare auf das deutsche Theater, verfuhren so redlich im Geiste ihrer Kunst, daß es ihnen nicht einfiel, seine Stücke etwa dadurch aufführbar zu machen, daß sie entweder den häufigen Szenenwechsel in ihnen durch bunte Verwandlung ihrer theatralischen Szene selbst begleitet, oder gar ihm zuliebe der wirklichen Darstellung der Szene überhaupt entsagt hätten und zu der szenenlosen mittelalterlichen Bühne zurückgekehrt wären, sondern sie behielten den einmal eingenommenen Standpunkt ihrer Kunst bei und ordneten ihm die Shakespearesche Vielszenigkeit insoweit unter, als sie unwichtig dünkende Szenen geradesweges ausließen, wichtigere Szenen aber zusammenfügten. Erst vom Standpunkte der Literatur aus gewahrte man, was bei diesem Verfahren vom Shakespeareschen Kunstwerke verlorenging, und drang auf Wiederherstellung der ursprünglichen Gestaltung der Stücke auch für die Darstellung, für welche man zwei entgegengesetzte Vorschläge machte. Der eine, nicht ausgeführte Vorschlag, ist der Tiecksche: Tieck , das Wesen des Shakespeareschen Dramas vollkommen erkennend, verlangte die Wiederherstellung der Shakespeareschen Bühne mit dem Appell an die Phantasie für die Szene. Dieses Verlangen war durchaus folgerichtig und ging auf den Geist des Shakespeareschen Dramas hin. Ist ein halber Restaurationsversuch in der Geschichte aber stets unfruchtbar geblieben, so hat sich ein radikaler dagegen von je als unmöglich erwiesen. Tieck war ein radikaler Restaurator, als solcher ehrenwert, aber ohne Einfluß. – Der zweite Vorschlag ging dahin, den ungeheuren Apparat der Opernszene zur Darstellung des Shakespeareschen Dramas auch durch getreue Herstellung der von ihm ursprünglich nur angedeuteten, häufig wechselnden Szene abzurichten. Auf der neueren englischen Bühne übersetzte man die Shakespearesche Szene in allerrealste Wirklichkeit: die Mechanik erfand Wunder für die schnelle Verwandlung der umständlichst ausgeführtesten Bühnendekorationen: Truppenmärsche und Schlachten wurden mit überraschendster Genauigkeit dargestellt. Auf großen deutschen Theatern ward dies Verfahren nachgeahmt.
    Vor diesem Schauspiel stand nun prüfend und verwirrt der moderne Dichter. Das Shakespearesche Drama hatte als Literaturstück auf ihn den erhebenden Eindruck der vollendetsten dichterischen Einheit gemacht; solange es nur an seine Phantasie sich gewendet hatte, war diese vermögend gewesen, aus ihm ein harmonisch abgeschlossenes Bild sich zu entnehmen, das er nun, bei Erfüllung des wiederum notwendig erwachten Verlangens, dieses Bild durch vollständige Darstellung an die Sinne verwirklicht zu sehen, plötzlich vor seinen Augen gänzlich sich verwischen sah. Das verwirklichte Bild der Phantasie hatte ihm nur eine unübersehbare Masse von Realitäten und Aktionen gezeigt, aus denen das verwirrte Auge das Gemälde der Einbildungskraft durchaus nicht wieder zurückzukonstruieren vermochte. Zwei Hauptwirkungen äußerte diese Erscheinung auf ihn, die sich beide in der Enttäuschung über die Shakespearesche Tragödie kundgaben. Der Dichter entsagte von nun an entweder dem Wunsche, seine Dramen auf der Bühne dargestellt zu sehen, um das dem Shakespeareschen Drama entnommene Phantasiebild ungestört nach seiner geistigen Absicht wiederum nachzubilden, d. h., er schrieb Literaturdramen für die stumme Lektüre – oder er wandte sich, um auf der Bühne sein Phantasiebild praktisch zu verwirklichen, mehr oder weniger unwillkürlich der

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