Oper und Drama
Roman zu so überzeugend charakteristischer Wahrheit belebte, daß er zum ersten Male Menschen von so mannigfaltiger und drastischer Individualität darstellte, wie noch kein Dichter vor ihm es vermocht hatte – dieser Shakespeare ist nichtsdestoweniger in seinen, durch die eine bezeichnete Notwendigkeit noch nicht gestalteten, Dramen der Grund und der Ausgangspunkt einer beispiellosen Verwirrung in der dramatischen Kunst über zwei Jahrhunderte hindurch, bis auf unsere Tage, geworden.
Dem Romane und dem losen Gefüge der Historie war im Shakespeareschen Drama, wie ich mich ausdrückte, eine Türe offengelassen worden, durch die sie nach Belieben aus- und eingehen konnten: diese Türe war die der Phantasie überlassene Darstellung der Szene. Wir werden nun sehen, daß die hieraus entstehende Verwirrung ganz in dem Grade vorwärtsschritt, als diese Türe von anderer Seite her auf das rücksichtsloseste zugeschlagen ward, und die gefühlte Mangelhaftigkeit der Szene wiederum zu willkürlichen Gewaltsamkeiten gegen das lebendige Drama selbst trieb.
Bei den sogenannten romanischen Nationen Europas, unter denen die schrankenlose Abenteuerlichkeit des – alle germanischen und romanischen Elemente bunt durcheinanderwerfenden – Romanes am tollsten gewütet hatte, war auch dieser Roman am unfähigsten zur Dramatisierung geworden. Der Drang, aus der konzentrierten Innerlichkeit des menschlichen Wesens heraus die bunten Äußerungen der früheren phantastischen Laune zu bestimmten, deutlichen Erscheinungen zu gestalten, gab sich vorzüglich nur bei den germanischen Nationen kund, die den innerlichen Krieg des Gewissens gegen marternde äußere Satzungen zur protestantischen Tat machten. Die romanischen Nationen, die äußerlich unter dem Joche des Katholizismus verblieben, erhielten sich fortwährend in der Richtung, nach welcher sie vor dem inneren unlösbaren Zwiespalte nach außen hin flohen, um von außen her – wie ich mich zuvor ausdrückte – nach innen sich zu zerstreuen. Die bildende Kunst, und eine Dichtkunst, die – als schildernde – der bildenden dem Wesen, wenn auch nicht der Äußerung nach, gleichkam, sind die eigentümlichen, von außen her zerstreuenden, fesselnden und ergötzenden Künste dieser Nationen.
Von seinem heimischen Volksschauspiele wandte sich der gebildete Italiener und Franzose ab; in seiner rohen Einfalt und Formlosigkeit erinnerte es ihn an den ganzen Wust des Mittelalters, den er eben wie einen schweren, beängstigenden Traum von sich abzuschütteln bemüht war. Dagegen ging er auf die historische Wurzel seiner Sprache zurück und wählte zunächst aus römischen Dichtern, den literarischen Nachahmern der Griechen, sich Muster auch für das Drama, das er zur Unterhaltung der fein erzogenen vornehmen Welt als Ersatz für das, nur noch den Pöbel ergötzende, Volksschauspiel vorführte. Malerei und Architektur, die Hauptkünste der romanischen Renaissance, hatten das Auge dieser vornehmen Welt so geschmackvoll und zu solchen Ansprüchen ausgebildet, daß das rohe, mit Teppichen verhängte Brettgerüst der britischen Schaubühne ihm nicht behagen konnte. Als Schauplatz ward in den Palästen der Fürsten den Schauspielern der prachtvolle Saal angewiesen, in welchem sie mit geringen Modifikationen ihre Szene herzustellen hatten. Stabilität der Szene ward als maßgebendes Haupterfordernis für das ganze Drama festgestellt, und hierin begegnete sich die angenommene Geschmacksrichtung der vornehmen Welt mit dem modernen Ursprunge des ihr vorgeführten Dramas, den Regeln des Aristoteles. Der fürstliche Zuschauer, dessen Auge durch die bildende Kunst zu seinem vornehmsten Organe positiven Genußsinnes gemacht worden war, liebte es nicht, gerade diesen Sinn binden zu sollen, um der Phantasie, der gesichtslosen, ihn unterzuordnen, und zwar um so weniger, als er grundsätzlich der Erregung der unbestimmten, mittelalterlich gestaltenden Phantasie auswich. Es hätte ihm die Möglichkeit geboten werden müssen, die Szene, bei jeder Veranlassung des Dramas zum Wechsel derselben, dem Gegenstande getreu mit malerischer und plastischer Genauigkeit dargestellt zu sehen, um diesen Wechsel selbst gestatten zu können. Was später bei der Mischung der dramatischen Richtungen ermöglicht wurde, war hier aber gar nicht zu verlangen nötig, weil andererseits die Aristotelischen Regeln, nach denen dieses fingierte Drama konstruiert wurde, auch die Einheit der Szene zu einer wichtigen Bedingung desselben
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