Oper und Drama
sie verfuhr ohne Kritik und individuelle Anschauung, und gab somit das Daguerreotyp der geschichtlichen Tatsachen. Shakespeare hatte dieses Daguerreotyp nur zum farbigen Ölgemälde zu beleben; er hatte den Tatsachen die notwendig aus ihrem Zusammenhange erratenen Motive zu entnehmen und diese dem Blut und Fleische der handelnden Personen einzuprägen. Im übrigen blieb das Gerüst der Geschichte von ihm völlig unangetastet: seine Bühne erlaubte ihm das, wie wir sahen. – Der modernen Szene gegenüber erkannte der Dichter aber bald die Unmöglichkeit, die Geschichte mit der chronistischen Treue Shakespeares für das Schauspiel herzurichten: er begriff, daß nur dem – für seine Länge oder Kürze ganz unbesorgten – Romane es möglich gewesen war, die Chronik mit lebendiger Schilderung der Charaktere auszustatten, und daß nur die Bühne Shakespeares wiederum es erlaubt hatte, diesen Roman zu dem Drama zusammenzudrängen. Suchte er nun den Stoff zum Drama in der Geschichte selbst, so geschah dies mit dem Wunsche und dem Streben, den historischen Gegenstand durch unmittelbar dichterische Auffassung von vornherein so zu bewältigen, daß er in der nur in möglichster Einheit verständlich sich kundgebenden Form des Dramas vorgeführt werden konnte. Gerade in diesem Wunsche und Streben liegt aber der Grund der Nichtigkeit unseres historischen Dramas. Geschichte ist nur dadurch Geschichte , daß sich in ihr mit unbedingtester Wahrhaftigkeit die nackten Handlungen der Menschen uns darstellen: sie gibt uns nicht die inneren Gesinnungen der Menschen, sondern läßt uns aus ihren Handlungen erst auf diese Gesinnungen schließen. Glauben wir nun diese Gesinnungen richtig erkannt zu haben, und wollen wir die Geschichte nun als aus diesen Gesinnungen gerechtfertigt darstellen, so vermögen wir dies eben nur in der reinen Geschichtsschreibung, oder – mit erreichbarster künstlerischer Wärme – im historischen Romane, d. h. in einer Kunstform, in der wir durch keinen äußerlichen Zwang genötigt sind, den Tatbestand der nackten Geschichte durch willkürliche Sichtung oder Zusammendrängung zu entstellen. Wir können die aus ihren Handlungen erkannten Gesinnungen geschichtlicher Personen auf keine Weise entsprechend uns verständlichen als durch getreue Darstellung derselben Handlungen, aus denen wir jene Gesinnungen erkannt haben. Wollen wir aber, um die inneren Beweggründe zu Handlungen uns zu verdeutlichen, die Handlungen, die aus ihnen hervorgingen, dem Zwecke ihrer Darstellung zulieb, in irgend etwas verändern oder entstehen, so kann dies notwendig wieder nur durch die Entstellung der Gesinnungen, sonach mit der gänzlichen Verneinung der Geschichte selbst geschehen. Der Dichter, der es versuchte, mit Umgehung der chronistischen Genauigkeit geschichtliche Stoffe für die dramatische Szene zu verarbeiten, und zu diesem Zwecke über den Tatbestand der Geschichte nach willkürlichem, künstlerisch-formellem Ermessen verfügte, konnte weder Geschichte noch aber auch ein Drama zustande bringen.
Halten wir, zur Verdeutlichung des Gesagten, Shakespeares historische Dramen mit Schillers »Wallenstein« zusammen, so müssen wir beim ersten Blicke erkennen, wie hier mit Umgehung der äußerlichen geschichtlichen Treue zugleich auch der Inhalt der Geschichte entstellt wird, während dort bei chronistischer Genauigkeit der charakteristische Inhalt der Geschichte auf das Überzeugendste wahrhaftig zutage tritt. Ohne Zweifel war aber Schiller ein größerer Geschichtsforscher als Shakespeare, und in seinen rein historischen Arbeiten entschuldigt er sich völlig für seine Auffassung der Geschichte als dramatischer Dichter. Worauf es uns jetzt hierbei aber ankommt, ist die faktische Bestätigung dessen, daß wohl für Shakespeare, auf dessen Bühne für die Szene an die Phantasie appelliert wurde, nicht aber für uns, die wir auch die Szene überzeugend an die Sinne dargestellt haben wollen, der Historie der Stoff zum Drama zu entnehmen ist. Selbst Schiller war es aber auch nicht möglich, den noch so absichtlich von ihm zugerichteten historischen Stoff zu der von ihm ins Auge gefaßten dramatischen Einheit zusammenzudrängen: Alles, was der Geschichte erst ihr eigentliches Leben gibt, die weithin sich erstreckende und wiederum nach dem Mittelpunkte bedingend hinwirkende Umgebung mußte er, da er ihre Schilderung doch als unerläßlich fühlte, außerhalb des Dramas, in ein ganz selbständig abgeschlossenes Sonderstück
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