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Oper und Drama

Oper und Drama

Titel: Oper und Drama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wagner
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gedrängtester Form vor. Die gemeinsame Anschauung vom Wesen der Erscheinungen, die im Mythos sich aus der Natur-Anschauung zur menschlich-sittlichen verdichtete, tritt hier, in bestimmtester, verdeutlichendster Form an die universellste Empfängniskraft des Menschen sich kundgebend, als Kunstwerk aus der Phantasie in die Wirklichkeit ein. Wie im Drama die zuvor im Mythos immer nur noch gedachten Gestalten in wirklich leiblicher Darstellung durch Menschen vorgeführt wurden, so drängte auch die wirklich dargestellte Handlung, ganz dem Wesen des Mythos entsprechend, sich zu plastischer Dichtheit zusammen. Wird die Gesinnung eines Menschen nur in seiner Handlung uns überzeugend offenbar, und besteht der Charakter eines Menschen eben in der vollkommenen Übereinstimmung seiner Gesinnung mit seiner Handlung, so wird diese Handlung, und somit die ihr zugrundeliegende Gesinnung – ganz im Sinne des Mythos auch – erst dadurch bedeutungsvoll und einem umfangreichen Inhalte entsprechend, daß auch sie in vollster Gedrängtheit sich kundgibt. Eine Handlung, die aus vielen Teilen besteht, ist entweder, wenn alle diese Teile von inhaltsvoller, entscheidender Wichtigkeit sind, eine übertriebene, ausschweifende und unverständliche oder, wenn diese Teile nur Anfänge und Absätze von Handlungen enthalten, eine kleinliche, willkürliche und inhaltslose. Der Inhalt einer Handlung ist die ihr zugrundeliegende Gesinnung; soll diese Gesinnung eine große, umfangreiche, das Wesen des Menschen nach irgendeiner bestimmten Richtung hin erschöpfende sein, so bedingt sie auch die Handlung als eine entscheidende, einzige und unteilbare, denn nur in einer solchen Handlung wird eine große Gesinnung uns offenbar. Der Inhalt des griechischen Mythos war seiner Natur nach von dieser umfangreichen, aber dichtgedrängten Beschaffenheit, und in der Tragödie äußerte sich dieser mit vollster Bestimmtheit auch als diese eine, notwendige und entscheidende Handlung. Diese eine Handlung in ihrer wichtigsten Bedeutung aus der Gesinnung der Handelnden vollkommen gerechtfertigt hervorgehen zu lassen, das war die Aufgabe des tragischen Dichters; die Notwendigkeit der Handlung aus der dargelegten Wahrheit der Gesinnung zum Verständnisse zu bringen, darin bestand die Lösung seiner Aufgabe. Die einheitvolle Form seines Kunstwerkes war ihm aber in dem Gerüste des Mythos vorgezeichnet, das er zum lebenvollen Baue nur auszuführen, keinesweges aber um eines willkürlich erdachten künstlerischen Baues willen zu zerbröckeln und neu zusammenzufügen hatte. Der tragische Dichter teilte den Inhalt und das Wesen des Mythos nur am überzeugendsten und verständlichsten mit, und die Tragödie ist nichts anderes als die künstlerische Vollendung des Mythos selbst, der Mythos aber das Gedicht einer gemeinsamen Lebensanschauung.
    Suchen wir uns nun deutlich zu machen, welches die Lebensanschauung der modernen Welt ist, die im Roman ihren künstlerischen Ausdruck gefunden hat. –
    Sobald der reflektierende Verstand von der eingebildeten Gestalt absah und nach der Wirklichkeit der Erscheinungen forschte, die in ihr zusammengefaßt waren, gewahrte er zunächst da, wo die dichterische Anschauung ein Ganzes sah, eine immer wachsende Vielheit von Einzelnheiten. Die anatomische Wissenschaft begann ihr Werk und verfolgte den ganz entgegengesetzten Weg der Volksdichtung: wo diese unwillkürlich verband, trennte jene absichtlich; wo diese den Zusammenhang sich darstellen wollte, trachtete jene nur nach genauestem Erkennen der Teile; und so mußte Schritt für Schritt jede Volksanschauung vernichtet, als abergläubisch überwunden, als kindisch verlacht werden. Die Naturanschauung des Volkes ist in Physik und Chemie, seine Religion in Theologie und Philosophie, sein Gemeindestaat in Politik und Diplomatie, seine Kunst in Wissenschaft und Ästhetik, sein Mythos aber in die geschichtliche Chronik aufgegangen. –
    Auch die neue Welt gewann ihre gestaltende Kraft aus dem Mythos; aus der Begegnung und Mischung zweier Hauptmythenkreise, die nie sich vollständig durchdringen und zu plastischer Einheit sich erheben konnten, ging der mittelalterliche Roman hervor.
    Im christlichen Mythos war das, worauf der Grieche alle äußeren Erscheinungen bezog und was er daher zum sicher gestalteten Vereinigungspunkt aller Natur- und Weltanschauungen gemacht hatte – der Mensch , das von vornherein Unbegreifliche, sich selbst Fremde geworden. Der Grieche war von außen, durch den

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