Oper und Drama
gemeinsame Dichtungskraft des Volkes die Erscheinungen gerade nur noch so, wie sie das leibliche Auge zu sehen vermag, nicht wie sie an sich wirklich sind. Die große Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, deren wirklichen Zusammenhang der Mensch noch nicht zu fassen vermag, macht auf ihn zunächst den Eindruck der Unruhe: um diese Unruhe zu überwinden, sucht er nach einem Zusammenhange der Erscheinungen, den er als ihre Ursache zu begreifen vermöge: den wirklichen Zusammenhang findet aber nur der Verstand, der die Erscheinungen nach ihrer Wirklichkeit erfaßt; der Zusammenhang, den der Mensch auffindet, der die Erscheinungen nur noch nach den unmittelbarsten Eindrücken auf ihn zu erfassen vermag, kann aber bloß das Werk der Phantasie und die ihnen untergelegte Ursache eine Geburt der dichterischen Einbildungskraft sein. Gott und Götter sind die ersten Schöpfungen der menschlichen Dichtungskraft: in ihnen stellt sich der Mensch das Wesen der natürlichen Erscheinungen als von einer Ursache hergeleitet dar; als diese Ursache begreift er aber unwillkürlich nichts anderes als sein eigenes menschliches Wesen, in welchem diese gedichtete Ursache auch einzig nur begründet ist. Geht nun der Drang des Menschen, der die innere Unruhe vor der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen bewältigen will, dahin, die gedichtete Ursache derselben sich so deutlich wie möglich darzustellen – da er Beruhigung nur durch dieselben Sinne wiederum zu gewinnen vermag, durch die auf sein Inneres beunruhigend gewirkt wurde –, so muß er den Gott sich auch in derjenigen Gestalt vorführen, die nicht nur dem Wesen seiner rein menschlichen Anschauung am bestimmtesten entspricht, sondern auch als äußerliche Gestalt ihm die verständlichste ist. Alles Verständnis kommt uns nur durch die Liebe, und am unwillkürlichsten wird der Mensch zu den Wesen seiner eigenen Gattung gedrängt. Wie ihm die menschliche Gestalt die begreiflichste ist, so wird ihm auch das Wesen der natürlichen Erscheinungen, die er nach ihrer Wirklichkeit noch nicht erkennt, nur durch Verdichtung zur menschlichen Gestalt begreiflich. Aller Gestaltungstrieb des Volkes geht im Mythos somit dahin, den weitesten Zusammenhang der mannigfaltigsten Erscheinungen in gedrängtester Gestalt sich zu versinnlichen: diese zunächst nur von der Phantasie gebildete Gestalt gebart sich, je deutlicher sie werden soll, ganz nach menschlicher Eigenschaft, trotzdem ihr Inhalt in Wahrheit ein übermenschlicher und übernatürlicher ist, nämlich diejenige zusammenwirkende vielmenschliche oder allnatürliche Kraft und Fähigkeit, die, als nur im Zusammenhange des Wirkens menschlicher und natürlicher Kräfte im Allgemeinen gefaßt, allerdings menschlich und natürlich ist, gerade aber dadurch übermenschlich und übernatürlich erscheint, daß sie der eingebildeten Gestalt eines menschlich dargestellten Individuums zugeschrieben wird. Durch die Fähigkeit, so durch seine Einbildungskraft alle nur denkbaren Realitäten und Wirklichkeiten nach weitestem Umfange in gedrängter, deutlicher plastischer Gestaltung sich vorzuführen, wird das Volk im Mythos daher zum Schöpfer der Kunst; denn künstlerischen Gehalt und Form müssen notwendig diese Gestalten gewinnen, wenn, wie es wiederum ihre Eigentümlichkeit ist, sie nur dem Verlangen nach faßbarer Darstellung der Erscheinungen, somit dem sehnsüchtigen Wunsche, sich und sein eigenstes Wesen – dieses gottschöpferische Wesen – selbst in dem dargestellten Gegenstande wiederzuerkennen, ja überhaupt erst zu erkennen, entsprungen sind. Die Kunst ist ihrer Bedeutung nach nichts anderes als die Erfüllung des Verlangens, in einem dargestellten bewunderten oder geliebten Gegenstande sich selbst zu erkennen, sich in den durch ihre Darstellung bewältigten Erscheinungen der Außenwelt wiederzufinden. Der Künstler sagt sich in dem von ihm dargestellten Gegenstande: »So bist du, so fühlst und denkst du, und so würdest du handeln, wenn du, frei von der zwingenden Unwillkür der äußeren Lebenseindrücke, nach der Wahl deines Wunsches handeln könntest.« So stellte das Volk im Mythos sich Gott , so den Helden und so endlich den Menschen dar. –
Die griechische Tragödie ist die künstlerische Verwirklichung des Inhaltes und des Geistes des griechischen Mythos. Wie in diesem Mythos der weitverzweigteste Umfang der Erscheinungen zu immer dichterer Gestalt zusammengedrängt wurde, so führte das Drama diese Gestalt wieder in dichtester,
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