Oper und Drama
aus seiner Wirklichkeit und unwillkürlichen Notwendigkeit, den tragischen Tod, der an sich nichts anderes war als der Abschluß eines durch Entwickelung vollster Individualität erfüllten, für die Geltendmachung dieser Individualität aufgewendeten Lebens. Dem Christen war aber der Tod an sich der Gegenstand – das Leben erhielt für ihn nur Weihe und Rechtfertigung als Vorbereitung auf den Tod, als Verlangen nach dem Sterben. Die bewußte, mit aller Kraft des Willens ausgeführte Abstreifung des sinnlichen Leibes, die absichtliche Vernichtung des wirklichen Daseins, war der Gegenstand der christlichen Kunst, der somit stets nur geschildert, beschrieben, nie aber, und am allerwenigsten im Drama, dargestellt werden konnte. Das entscheidende Element des Dramas ist die künstlerisch verwirklichte Bewegung eines scharf bestimmten Inhaltes: eine Bewegung kann unsere Teilnahme aber nur fesseln, wenn sie zunimmt; eine abnehmende Bewegung schwächt und zerstreut unsere Teilnahme – außer da, wo sich in ihr eine notwendige Beruhigung vorübergehend ausdrückt. Im griechischen Drama wächst die Bewegung vom Beginne an zu immer beschleunigterem Laufe, bis zum erhabenen Sturme der Katastrophe; das ungemischte, wahrhaftige christliche Drama müßte mit dem Sturme des Lebens beginnen, um die Bewegung zum schwärmerischen Ersterben abzuschwächen. Die Passionsspiele des Mittelalters stellten die Leidensgeschichte Jesus' in der Form wechselnder, leidlich ausgeführter Bilder dar: das wichtigste und ergreifendste dieser Bilder führte Jesus am Kreuze hängend vor: Hymnen und Psalmen wurden während dieser Ausstellung gesungen. – Die Legende , dieser christliche Roman, vermochte einzig den christlichen Stoff zur anziehenden Darstellung zu bringen, weil sie – wie es bei diesem Stoffe einzig möglich war – nur an die Phantasie, nicht aber an die sinnliche Anschauung sich wandte. Nur der Musik war es vorbehalten, diesen Stoff auch durch äußere, sinnlich wahrnehmbare Bewegung darzustellen, jedoch nur dadurch, daß sie ihn gänzlich zum bloßen Gefühlsmomente auflöste, zur Farbenmischung ohne Zeichnung, die in der farbigen Zerflossenheit der Harmonie so erlosch, wie der Sterbende aus der Wirklichkeit des Lebens zerfließt. –
Der zweite, dem christlichen Mythos entgegengesetzte, auf die Anschauung und die Kunstgestaltung der neuen Zeit entscheidend einwirkende Mythenkreis ist die heimische Sage der neueren europäischen, vor allem aber der deutschen Völker.
Der Mythos dieser Völker wuchs, wie der der hellenischen, aus der Naturanschauung zur Bildung von Göttern und Helden. In einer Sage – der Siegfriedssage – vermögen wir jetzt mit ziemlicher Deutlichkeit bis auf ihren ursprünglichen Keim zu blicken, der uns nicht wenig über das Wesen des Mythos überhaupt belehrt. Wir sehen hier natürliche Erscheinungen, wie die des Tages und der Nacht, des Auf- und Unterganges der Sonne, durch die Phantasie zu handelnden und um ihrer Tat willen verehrten oder gefürchteten Persönlichkeiten verdichtet, die aus menschlich gedachten Göttern endlich zu wirklich vermenschlichten Helden umgeschaffen wurden, die einst wirklich gelebt haben sollten, und von denen die lebenden Geschlechter und Stämme sich leiblich entsprossen rühmten. Der Mythos reichte so, maßgebend und gestaltend, Ansprüche rechtfertigend und zu Taten beteuernd, in das wirkliche Leben hinein, wo er als religiöser Glaube nicht nur gepflegt wurde, sondern als betätigte Religion selbst sich kundgab. Ein unermeßlicher Reichtum verehrter Vorfälle und Handlungen füllte diesen, zur Heldensage gestalteten, religiösen Mythos an: so mannigfaltig diese gedichteten und besungenen Handlungen aber auch sich geben mochten, so erschienen sie doch alle nur als Variationen eines gewissen, sehr bestimmten Typus von Begebenheiten, den wir bei gründlicher Forschung auf eine einfache religiöse Vorstellung zurückzuführen vermögen. In dieser religiösen, der Naturanschauung entnommenen Vorstellung hatten, bei ungetrübter Entwickelung des eigentümlichen Mythos, die buntesten Äußerungen. der unendlich verzweigten Sage ihren immer nährenden Ausgangsquell: mochten die Gestaltungen der Sage bei den vielfachen Geschlechtern und Stämmen sich aus wirklichen Erlebnissen immer neu bereichern, so geschah die dichterische Gestaltung des neu Erlebten doch unwillkürlich immer nur in der Weise, wie sie der dichterischen Anschauung einmal zu eigen war, und diese wurzelte tief
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