Oper und Drama
Vergleich der äußeren Erscheinungen mit dem Menschen, zum Menschen gekommen: in seiner Gestalt, in seinen unwillkürlich gebildeten sittlichen Begriffen, fand er, vom Schweifen in den Weiten der Natur zurückkehrend, Maß und Beruhigung. Dieses Maß war aber ein eingebildetes und nur künstlerisch verwirklichtes: mit dem Versuche, im Staate es absichtlich zu realisieren, deckte sich der Widerspruch jenes eingebildeten Maßes mit der Wirklichkeit der realen menschlichen Unwillkür insoweit auf, als Staat und Individuum sich nur durch offenbarste Übertretung jenes eingebildeten Maßes zu erhalten suchen mußten. Als die natürliche Sitte zum willkürlich vertragenen Gesetz, die Stammesgemeinschaft zum willkürlich konstruierten politischen Staate geworden waren, lehnte nun gegen Gesetz und Staat sich wieder der unwillkürliche Lebenstrieb des Menschen mit dem vollen Anscheine der egoistischen Willkür auf. In dem Zwiespalte zwischen dem, was der Mensch für gut und recht erkannte, wie Gesetz und Staat, und dem, wozu sein Glückseligkeitstrieb ihn drängte – der individuellen Freiheit, mußte der Mensch sich endlich unbegreiflich vorkommen, und dieses Irresein an sich war der Ausgangspunkt des christlichen Mythos. In diesem schritt der, der Aussöhnung mit sich bedürftige, individuelle Mensch bis zur ersehnten, im Glauben aber verwirklicht gedachten Erlösung in einem außerweltlichen Wesen vor, in welchem Gesetz und Staat insoweit vernichtet waren, als sie in seinem unerforschlichen Willen mit inbegriffen gedacht wurden. Die Natur, aus welcher der Grieche bis zum deutlichen Erfassen des Menschen gelangt war, hatte der Christ gänzlich zu übersehen: galt ihm als ihre höchste Spitze der in sich uneinige, erlösungsbedürftige Mensch, so konnte sie ihm nur noch uneiniger und an sich verdammungswürdiger erscheinen. Die Wissenschaft, welche die Natur in ihre Teile zerlegte, ohne das wirkliche Band dieser Teile noch zu finden, konnte die christliche Ansicht von der Natur nur unterstützen.
Körperliche Gestalt gewann der christliche Mythos aber an einem persönlichen Menschen, der um des Verbrechens an Gesetz und Staat willen den Martertod erlitt, in der Unterwerfung unter die Strafe Gesetz und Staat als äußerliche Notwendigkeiten rechtfertigte, durch seinen freiwilligen Tod zugleich aber auch Gesetz und Staat zugunsten einer inneren Notwendigkeit, der Befreiung des Individuums durch Erlösung in Gott aufhob. Die hinreißende Gewalt des christlichen Mythos auf das Gemüt besteht in der von ihm dargestellten Verklärung durch den Tod . Der gebrochene, todesberauschte Blick eines geliebten Sterbenden, der, zur Erkennung der Wirklichkeit bereits unvermögend, uns mit dem letzten Leuchten seines Glanzes noch einmal berührt, übt einen Eindruck der herzbewältigendsten Wehmut auf uns aus; dieser Blick ist aber begleitet von dem Lächeln der bleichen Wangen und Lippen, das, an sich nur dem Wohlgefühle des endlich überstandenen Todesschmerzes im Augenblicke der eintretenden vollständigen Auflösung entsprungen, auf uns den Eindruck vorausempfundener überirdischer Seligkeit macht, die eben nur durch Ersterben des leiblichen Menschen gewonnen werden könne. So, wie wir ihn in seinem Verscheiden sahen, steht der Hingeschiedene nun vor dem Blicke unserer Erinnerung: alle Willkürlichkeit und Unbestimmtheit seiner sinnlichen Lebensäußerung nimmt unser Gedenken von seinem Bilde fort; den nur noch Gedachten sieht unser geistiges Auge, der Blick der gedenkenden Minne, in dem sanftdämmernden Scheine leidenloser, süßruhiger Glückseligkeit. So gilt uns der Augenblick des Todes als der der wirklichen Erlösung in Gott, denn durch sein Sterben ist der Geliebte, in unserem Gedenken an ihn, von der Empfindung des Lebens geschieden, deren Wonnen wir, in der Sehnsucht nach eingebildeten größeren Wonnen, uneingedenk sind, deren Schmerzen wir aber, namentlich aber auch in dem Verlangen nach dem verklärten Seligen, einzig als das Wesen der Empfindung des Lebens festhalten.
Dieses Sterben , und die Sehnsucht nach ihm, ist der einzige wahre Inhalt der aus dem christlichen Mythos hervorgegangenen Kunst: er äußert sich als Scheu, Ekel und Flucht vor dem wirklichen Leben, und als Verlangen nach dem Tode. Der Tod galt dem Griechen nicht nur als eine natürliche, sondern auch sittliche Notwendigkeit, aber nur dem Leben gegenüber , welches an sich der wirkliche Gegenstand auch aller Kunstanschauung war. Das Leben bedang aus sich,
Weitere Kostenlose Bücher