Oper und Drama
nichts anderes als die nach dem wirklichen Maße der Erscheinung geordnete Einbildungskraft ist, für die Mitteilung des von ihm Erkannten durch die Einbildungskraft wiederum an das unwillkürliche Gefühl vorzuschreiten. Im Verstande spiegeln sich die Erscheinungen als das, was sie wirklich sind; diese abgespiegelte Wirklichkeit ist aber eben nur eine gedachte: um diese gedachte Wirklichkeit mitzuteilen, muß er sie dem Gefühle in einem ähnlichen Bilde darstellen, als wie das Gefühl sie ihm ursprünglich zugeführt hat, und dies Bild ist das Werk der Phantasie. Nur durch die Phantasie vermag der Verstand mit dem Gefühle zu verkehren. Der Verstand kann die volle Wirklichkeit der Erscheinung nur erfassen, wenn er das Bild, in welchem sie von der Phantasie ihm vorgeführt wird, zerbricht und sie in ihre einzelnsten Teile zerlegt; so wie er diese Teile sich wieder im Zusammenhange vorführen will, hat er sogleich wieder sich ein Bild von ihr zu entwerfen, das der Wirklichkeit der Erscheinung nicht mehr mit realer Genauigkeit, sondern nur in dem Maße entspricht, in welchem der Mensch sie zu erkennen vermag. So setzt auch die einfachste Handlung den Verstand, der sie unter dem anatomischen Mikroskope betrachten will, durch die ungeheure Vielgliedrigkeit ihres Zusammenhanges in Staunen und Verwirrung; und will er sie begreifen, so kann er nur durch Entfernung des Mikroskopes und durch Vorführung des Bildes von ihr, das sein menschliches Auge einzig zu erfassen vermag, zu einem Verständnisse gelangen, das schließlich nur durch das – vom Verstande gerechtfertigte – unwillkürliche Gefühl ermöglicht wird. Dieses Bild der Erscheinungen, in welchem das Gefühl einzig diese zu begreifen vermag, und welches der Verstand, um sich dem Gefühle verständlich zu machen, demjenigen nachbilden muß, welches ihm ursprünglich durch die Phantasie vom Gefühle zugeführt war, ist für die Absicht des Dichters, der auch die Erscheinungen des Lebens aus ihrer unübersehbaren Vielgliedrigkeit zu dichter, leicht überschaubarer Gestaltung zusammendrängen muß, nichts anderes als das Wunder .
[ V ]
Das Wunder im Dichterwerke unterscheidet sich von dem verrufenen Wunder im religiösen Dogma dadurch, daß es nicht, wie dieses, die Natur der Dinge aufhebt , sondern vielmehr sie dem Gefühle begreiflich macht.
Das jüdisch-christliche Wunder zerriß den Zusammenhang der natürlichen Erscheinungen, um den göttlichen Willen als über der Natur stehend erscheinen zu lassen. In ihm wurde keinesweges ein weiter Zusammenhang, zu dem Zwecke eines Verständnisses desselben durch das unwillkürliche Gefühl, verdichtet, sondern es wurde ganz um seiner selbst willen verwendet; man forderte es als Beweis einer übermenschlichen Macht von demjenigen, der sich für göttlich ausgab, und an den man nicht eher glauben wollte, als bis er vor den leibhaften Augen der Menschen sich als Herr der Natur, d. h. als beliebiger Verdreher der natürlichen Ordnung auswies. Dies Wunder ward demnach von dem verlangt, den man nicht an sich und aus seinen natürlichen Handlungen für wahrhaftig hielt, sondern dem man erst zu glauben sich vornahm, wenn er etwas Unglaubliches, Unverständliches ausführte. Die grundsätzliche Verneinung des Verstandes war also etwas, vom Wunderfordernden wie Wunderwirkenden gebieterisch Vorausgesetztes, wogegen der absolute Glaube das vom Wundertäter Geforderte und vom Wunderempfangenden Gewährte war.
Dem dichtenden Verstande liegt nun, für den Eindruck seiner Mitteilung, gar nichts am Glauben, sondern nur am Gefühlsverständnis . Er will einen großen Zusammenhang natürlicher Erscheinungen in einem schnell verständlichen Bilde darstellen, und dieses Bild muß daher ein den Erscheinungen in der Weise entsprechendes sein, daß das unwillkürliche Gefühl es ohne Widerstreben aufnimmt, nicht aber zur Deutung erst aufgefordert wird; wogegen das charakteristische des dogmatischen Wunders eben darin besteht, daß es den unwillkürlich nach seiner Erklärung suchenden Verstand, durch die dargetane Unmöglichkeit, es zu erklären, gebieterisch unterjocht und in dieser Unterjochung eben seine Wirkung sucht. Das dogmatische Wunder ist daher ebenso ungeeignet für die Kunst, als das gedichtete Wunder das höchste und notwendigste Erzeugnis des künstlerischen Anschauungs- und Darstellungsvermögens ist.
Stellen wir uns das Verfahren des Dichters in der Bildung seines Wunders deutlicher vor, so sehen wir zunächst, daß er, um
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