Oper und Drama
richten, die er so wählen muß, daß sie, sowohl ihrem Charakter wie ihrem Umfange nach, ihre vollständige Rechtfertigung aus dem Gefühle ihm ermöglicht; denn in dieser Rechtfertigung beruht einzig die Erreichung seiner Absicht.
Eine Handlung, die nur aus historischen, ihrem Grunde nach ungegenwärtigen Beziehungen erklärt, vom Standpunkte des Staates aus gerechtfertigt oder durch Berücksichtigung religiöser, von außen eingeprägter, nicht gemeinsam innerlicher, Dogmen begriffen werden kann, ist – wie wir sahen – nur dem Verstande, nicht dem Gefühle darzustellen: am genügendsten konnte dies durch Erzählung und Schilderung, durch Appell an die Einbildungskraft des Verstandes, nicht durch unmittelbare Vorführung an das Gefühl und seine bestimmt erfassenden Organe, die Sinne, gelingen, weil eine solche Handlung für diese Sinne recht eigentlich unüberschaubar war und eine Masse von Beziehungen in ihr außerhalb aller Möglichkeit, sie zur sinnlichen Anschauung zu bringen, liegen und nur dem kombinierenden Denkorgane zum Verständnis überlassen bleiben mußten. In einem historisch politischen Drama kam es daher dem Dichter darauf an, seine Absicht – als solche – schließlich ganz nackt zu geben: das ganze Drama blieb unverständlich und eindruckslos, wenn nicht endlich diese Absicht, in Form einer menschlichen Moral, aus einem ungeheuern Wuste, zur bloßen Schilderung verwendeten, pragmatischer Motive, recht ersichtlich zum Vorschein kam. Man frug sich im Verlaufe eines solchen Stückes unwillkürlich: »Was will der Dichter damit sagen?«
Die Handlung nun, die vor dem Gefühle und durch das Gefühl gerechtfertigt werden soll, befaßt sich mit keiner Moral , sondern alle Moral beruht eben nur in der Rechtfertigung dieser Handlung aus dem unwillkürlichen menschlichen Gefühle. Sie ist sich selbst Zweck, insofern sie eben nur aus dem Gefühle, dem sie entwächst, gerechtfertigt werden soll. Diese Handlung kann daher nur eine solche sein, die aus den wahrsten, d. h. dem Gefühle begreiflichsten, den menschlichen Empfindungen naheliegendsten, somit einfachsten Beziehungen hervorgeht – aus Beziehungen, wie sie nur einer, dem Wesen nach mit sich einigen, von unwesenhaften Vorstellungen und ungegenwärtigen Berechtigungsgründen unbeeinflußten, nur sich selbst und keiner Vergangenheit angehörigen, menschlichen Gesellschaft entspringen können.
Keine Handlung des Lebens steht aber vereinzelt da: sie hat einen Zusammenhang mit den Handlungen anderer Menschen, durch die sie, gleichwie aus dem individuellen Gefühle des Handelnden selbst, bedingt wird. Den schwächsten Zusammenhang haben nur kleine, unbedeutende Handlungen, die weniger der Stärke eines notwendigen Gefühles als der Willkür der Laune zur Erklärung bedürfen. Je größer und entscheidender jedoch eine Handlung ist, je mehr sie nur aus der Stärke eines notwendigen Gefühles erklärt werden kann, in einem desto bestimmteren und weiteren Zusammenhange steht sie auch mit den Handlungen anderer. Eine große, das Wesen des Menschen nach einer Richtung hin am ersichtlichsten und erschöpfendsten darstellende Handlung geht nur aus der Reibung mannigfaltiger und starker Gegensätze hervor. Um diese Gegensätze selbst gerecht beurteilen und die in ihnen sich kundgebenden Handlungen aus den individuellen Gefühlen der Handelnden begreifen zu können, muß eine große Handlung aber in einem weiten Kreise von Beziehungen dargestellt werden, denn erst in diesem Kreise ist sie zu verstehen. Die erste und eigentümlichste Aufgabe des Dichters besteht demnach darin, daß er einen solchen Kreis von vornherein in das Auge faßt, seinen Umfang vollkommen ermißt, jede Einzelheit der in ihm liegenden Beziehungen genau nach ihrem Maße und ihrem Verhältnisse zur Haupthandlung erforscht, und nun das Maß seines Verständnisses von ihnen zu dem Maße ihrer Verständlichkeit als künstlerische Erscheinung macht, indem er ihren weiten Kreis nach seinem Mittelpunkte zu zusammendrängt und ihn so zur verständnisgebenden Peripherie des Helden verdichtet. Diese Verdichtung ist das eigentliche Werk des dichtenden Verstandes, und dieser Verstand ist der Mittel- und Höhepunkt des ganzen Menschen, der von ihm aus sich in den empfangenden und mitteilenden scheidet.
Wie die Erscheinung zunächst von dem nach außen gewendeten unwillkürlichen Gefühle erfaßt und der Einbildungskraft als erster Tätigkeit des Gehirnes zugeführt wird, so hat der Verstand, der
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