Operation Amazonas
hatte Nate eindringlich angesehen. Trotz der gegenwärtigen kooperativen Haltung der Indianer machte Kouwe sich offenbar Sorgen. Als Nate nachfragen wollte, hatte der Professor abgewinkt. »Später«, hatte er gesagt, mehr nicht.
Nate sprang von der letzten Sprosse der Hängeleiter hinunter. Am Fuße des Baums standen zwei Ranger und Manny. Tor-tor war bei seinem Herrn. Die anderen Angehörigen ihrer bereits arg dezimierten Gruppe – Zane, Anna und Olin – waren in der Baumkrone geblieben und befassten sich mit der Funkausrüstung.
Manny nickte ihm grüßend zu, als Nate sich ihm näherte. »Ich werde hier Wache halten«, meinte Kostos zu Carrera. »Sie erkunden mit Manny zusammen die nähere Umgebung. Machen Sie sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut.«
Die Rangerin nickte und wandte sich ab.
Manny folgte ihr. »Komm mit, Tor-tor.«
Kostos nickte Nate zu. »Was machen Sie denn hier unten, Rand?«
»Ich versuche mich nützlich zu machen.« Er wies mit dem Kinn zur dreißig Meter entfernten Blockhütte. »Ich will mal sehen, ob ich im Computer meines Vaters nützliche Informationen finde, solange die Sonne noch scheint und die Solarzellen Strom liefern.«
Kostos blickte stirnrunzelnd zur Hütte, nickte aber schließlich. Nate konnte in seinen Augen lesen, wie es in ihm arbeitete. Im Moment konnte jede Information lebenswichtig sein. »Seien Sie vorsichtig«, sagte der Sergeant.
Nate schob die Schrotflinte auf der Schulter hoch. »Wird gemacht.« Er wandte sich ab.
In der Ferne, am Rand der Lichtung, hatte sich eine Hand voll Kinder versammelt. Sie zeigten mit den Fingern herüber und stupsten sich gegenseitig an. Einige von ihnen folgten Manny und Carrera, hielten jedoch einen respektvollen Abstand zu Tor-tor ein. Die Neugier der Jugend. Allmählich nahm der furchtsame Stamm die normale Routine wieder auf. Einige Frauen schleppten Wasser vom Fluss heran, der die Lichtung durchschnitt und um den Riesenbaum in der Mitte herumfloss. Andere Indianer machten sich vor den Baumbehausungen zu schaffen. Auf den Veranden flammten die steinernen Feuerstellen auf; das Essen wurde zubereitet. In einer Hütte saß im Schneidersitz eine alte Frau und spielte auf einer aus Hirschbein geschnitzten Flöte, ein heller, aber angenehmer Klang. Zwei mit Jagdbogen bewaffnete Männer kamen vorbei und nickten Nate kaum merklich zu.
Ihre lässige Art erinnerte Nate daran, dass der Stamm trotz seiner Isoliertheit bereits mit Weißen zusammengelebt hatte. Mit den Überlebenden der Expedition seines Vaters.
Neben dem Hütteneingang fiel ihm abermals der Wanderstock seines Vaters ins Auge. Während er ihn anschaute, wurde die Umgebung mit all ihren Geheimnissen für ihn bedeutungslos. Im Moment beschäftigte ihn eine einzige Frage: Was ist mit meinem Vater geschehen?
Mit einem letzten Blick zurück zu ihrer momentanen Baumbehausung hob er den Vorhang an und trat in die Hütte. Im Innern roch es wie in einer alten Gruft. Der Laptop auf der Arbeitsplatte war noch aufgeklappt, so wie er ihn zurückgelassen hatte.
Als er sich dem Computer näherte, bemerkte er, dass der Bildschirmschoner lief. Kleine Fotos tanzten über den Bildschirm. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Auf den Fotos war seine Mutter abgebildet. Ein weiteres Gespenst aus der Vergangenheit. Er betrachtete das lächelnde Gesicht. Auf einem Foto kniete sie neben einem kleinen Indianerjungen. Auf einem anderen hockte ihr ein Kapuzineräffchen auf der Schulter. Dann wieder umarmte sie einen weißen Jungen, der nach Art der Baniwa gekleidet war. Das war Nate. Damals war er sechs gewesen. Er lächelte und hatte dabei das Gefühl, das Herz müsse ihm platzen. Obwohl sein Vater auf keinem dieser Fotos abgebildet war, spürte Nate seine Anwesenheit, als stünde sein Geist direkt neben ihm. Noch nie hatte sich Nate seiner verlorenen Familie so nahe gefühlt.
Nach einer Weile legte er die Hand aufs Mousepad. Der Bildschirmschoner verschwand, an seine Stelle trat eine normale Oberfläche. Kleine Icons waren auf dem Bildschirm verteilt. Nate las die Bezeichnungen. Pflanzenklassifizierung, Stammesgebräuche, Zellstatistik … jede Menge Informationen. Es würde Tage dauern, sie alle durchzusehen. Eine Datei aber fiel ihm besonders ins Auge. Das Icon stellte ein kleines Buch dar. Darunter stand Journal .
Nate klickte das Icon an. Die Datei öffnete sich:
Amazonas-Journal – Dr. Carl Rand
Das Tagebuch seines Vaters. Die erste Eintragung datierte vom 24. September. An diesem Tag war
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