Operation Amazonas
warnte Kouwe ihn vor. »Hierbei geht es um mehr als ein gewöhnliches Ritual. Ich glaube, er möchte die Verantwortung für den Stamm, das Dorf und den Baum an dich weiterreichen.«
»Das kann ich nicht annehmen«, sagte Nate, sich nach Kouwe umblickend.
»Du musst. Wenn du Schamane bist, hat der Stamm keine Geheimnisse mehr vor dir. Verstehst du, was das bedeutet?«
Nate atmete tief durch und nickte. »Das Heilmittel.«
»Genau.«
Nate trat vor und kniete neben der Hängematte nieder.
Der Schamane zeigte Nate, was er tun sollte, doch das kannte er bereits vom Ritual der Yanomami her. Der kleine Mann steckte sich das Ende des Rohrs in die Nase. Dann bedeutete er Nate, den Mund ans andere Ende zu legen. Nate sollte ihm die Droge in die Nase pusten. Er selbst wiederum steckte sich das zweite Rohr in die Nase. Der Schamane führte das andere Ende an seinen Mund. Auf diese Weise konnten sie sich die Droge gleichzeitig in die Nebenhöhlen blasen.
Der Schamane hob den Arm. Beide holten tief Luft.
Achtung, fertig …
Der Indianer senkte den Arm.
Nate atmete heftig durch das Schilfrohr aus und wappnete sich gleichzeitig gegen die Attacke auf seine Nebenhöhlen. Noch ehe er mit Pusten fertig war, traf ihn die Wirkung der Droge wie ein Schlag.
Nate kippte nach hinten. Eine glühend heiße Flamme versengte seinen Schädel, gefolgt von einer blendend hellen Explosion. Er hatte das Gefühl, die Schädelplatte sei ihm weggesprengt worden. Während sich alles um ihn drehte, schnappte er nach Luft. Das Schwindelgefühl wurde übermächtig. In seinem Geist tat sich eine Grube auf. Er fiel hinein. Sich hilflos überschlagend stürzte er in eine Dunkelheit, die gleichzeitig hell zu sein schien.
In der Ferne rief jemand seinen Namen, doch er konnte nicht antworten.
In der Geisterwelt stürzte er durch etwas Festes hindurch. Die Dunkelheit zersplitterte wie Glas. Tiefschwarze Scherben taumelten davon und verschwanden. Übrig blieb eine schattenhafte Form, die Ähnlichkeit mit einem stilisierten Baum hatte.
Offenbar stand der Baum auf einem dunklen Hügel.
Nate schwebte davor. Nach und nach traten weitere Einzelheiten hervor. Der Baum wurde plastisch, entwickelte kleine nachtschwarze Blätter und lagenförmig angeordnete Äste, an denen Nüsse hingen.
Die Yagga.
Vom Rand des Hügels marschierten kleine Gestalten herbei, näherten sich im Gänsemarsch dem Baum.
Die Hekura , dachte Nate benommen.
Wie der Baum entwickelten auch die Gestalten immer mehr Einzelheiten, bis Nate auf einmal seinen Irrtum bemerkte. Das waren keine kleinen Menschen, sondern alle möglichen Tiere – Affen, Faultiere, Ratten, Krokodile, Jaguare und auch einige, die Nate nicht kannte. Zwischen die als dunkle Silhouetten erkennbaren Tiere hatten sich Männer und Frauen gemischt, doch Nate wusste, dass dies keine Hekura waren. Sie alle marschierten zum Baum – und verschwanden darin. Die Schattengestalten verschmolzen mit dem dunklen Baumstamm.
Wohin waren sie verschwunden? Sollte er ihnen folgen?
Dann tauchten die Gestalten auf der anderen Seite des Baums wieder auf. Inzwischen aber hatten sie sich verwandelt. Sie waren keine Schatten mehr, sondern strahlten ein helles Licht aus. Die leuchtende Gruppe umringte den Baum. Mensch und Tier. Gemeinsam beschützten sie die Mutter.
Nate, der in der Nähe schwebte, spürte, wie der Zeitablauf sich beschleunigte. Die Männer und Frauen näherten sich hin und wieder dem Baum, wobei sich ihr Leuchten abschwächte. Sie aßen die Früchte des Baums, leuchteten abermals auf und nahmen anschließend wieder ihren Platz im Kreis der YaggaJünger ein. Dieses Ritual wiederholte sich immer wieder von neuem.
Wie bei einem oft gespielten Video verblasste das Bild allmählich – es wiederholte sich noch immer, wurde aber immer verschwommener –, bis nur noch Dunkelheit übrig blieb.
»Nate?«, rief eine Stimme.
Wer war das? Nate blickte sich nach dem Rufer um, doch wohin er auch schaute, überall herrschte tiefe Dunkelheit.
»Nate, hörst du mich?«
Ja, aber wo bist du?
»Drück mir die Hand, wenn du mich hörst.«
Nate schwebte in der Dunkelheit auf die Stimme zu.
»Gut gemacht, Nate. Und jetzt mach die Augen auf.«
Er versuchte zu gehorchen.
»Verkrampf dich nicht … mach einfach die Augen auf.«
Abermals zersplitterte die Dunkelheit und eine strahlende Helligkeit blendete ihn. Er schnappte nach Luft, saugte die Luft in tiefen Zügen ein. Ihm brummte der Schädel. Durch einen Tränenschleier hindurch sah er das Gesicht seines
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