Operation Blackmail
aufgepäppelt. Er war in Sankt Georg jeden
Tag an ihr vorbeigekommen in seinem Rollstuhl, sie hatte immer alleine im
verrammelten Eingang eines ehemaligen Elektrogeschäfts gehockt, ohne jemals die
Hand aufzuhalten. Und wann immer ihr Passanten ein paar Münzen hinwarfen,
steckte sie sie erst in die Tasche, wenn sie auÃer Sicht waren. Auf den ersten
Blick hatte Solveigh wie die üblichen Null-Bock-Jugendlichen gewirkt, die sich
auf der StraÃe durchschlugen, um ihren Eltern eins auszuwischen. Nur Solveighs
Augen hatten Eddy verraten, dass dieses scheue junge Ding etwas Besonderes war.
Es hatte Monate gedauert, bis er ihr Vertrauen gewonnen hatte. Monate mit
Schachspielen, zunächst stumm, dann erste zaghafte Gespräche. SchlieÃlich hatte
er eine Frau entdeckt, die weder scheu noch dumm war, ganz im Gegenteil. Er
hatte sie bei sich aufgenommen, ohne Versprechungen, aber auch ohne
Forderungen, hatte ihr eine helfende Hand angeboten, wann immer sie wollte.
SchlieÃlich hatte sie ihr Abitur nachgeholt, mit Bestnote. Als er merkte, dass
sie seine Hilfe nicht mehr brauchte, hatte er den schönen Vogel wieder fliegen
lassen. Er erinnerte sich mit Wehmut an ihre gemeinsame Zeit, die langen Abende
mit Rotwein vor dem Kamin, ihren Umgang mit seiner Behinderung, der immer
neugierig, aber niemals abschätzig gewesen war. Natürlich hatte er sich ein
kleines bisschen in sie verliebt, aber sein Schicksal im Rollstuhl lieà das
kaum zu, denn er würde ihr niemals zur Last fallen wollen.
Er blickte zu dem leeren Bürostuhl gegenüber, auf dem sie
normalerweise saÃ. Eddy seufzte. Mensch, Solveigh, wo hast du dich da nur
reingeritten? Nein, es gab sicher für alles eine Erklärung. Sie beteuerte nach
wie vor, nichts von einem offenen Port gewusst zu haben. Er musste herausfinden,
wer ihren Rechner manipuliert hatte. Und dafür gab es nur eine einzige
Möglichkeit: Er brauchte Zugang zu Solveighs Laptop. Und der lag sicher verschlossen
in der Asservatenkammer. Er musste einen Weg finden, den Rechner in die Hände
zu bekommen, und für einen so kühnen Plan brauchte er erst einmal einen freien
Kopf. Er stieà sich vom Schreibtisch ab und manövrierte seinen Rollstuhl zur Bürotür,
die sich automatisch öffnete. Thaters Verständnis von behindertengerechtem
Arbeiten. Mit den geübten Handbewegungen eines Mannes, der von Geburt an mit
seiner Behinderung lebte und für den der Rollstuhl so normal war wie für andere
Menschen ihre Schuhe, steuerte er das Gefährt durch die Flure der ECSB.
Als er auf dem flachen Dach des Hochhauses angekommen war, pfiff ihm
der kalte Wind um die Ohren. Hierher kam er zum Nachdenken. Die Zeit zwischen
Solveighs Einsätzen verbrachte er oft tagelang im Büro, um erreichbar zu sein,
wenn sie ihn brauchte. Dann nutzte er diese Ausflüge, um wenigstens einmal am
Tag oder in der Nacht den Himmel zu sehen. Ihre Büros hatten aus
Sicherheitsgründen keine Fenster, alles war abhörsicher verschalt. Aber hier
oben, nach einer kleinen Weltreise für einen Rollstuhlfahrer, warteten frische
Luft und das Gefühl von Freiheit.
Früher hatte es keine Möglichkeit gegeben, hier mit dem Rollstuhl
heraufzukommen, ohne einen Kollegen um Hilfe zu bitten. Aber nachdem Thater zu
Ohren gekommen war, dass er hier gerne abschaltete, war eines Tages ein Lift an
der Treppe zum Dach installiert worden. Ohne Ankündigung und ohne internes
Memo. Als sich Eddy am nächsten Tag bedanken wollte, hatte Thater es mit einer
wegwerfenden Handbewegung als Selbstverständlichkeit abgetan. Aber natürlich
war es nicht selbstverständlich, besonders nicht für einen Rollstuhlfahrer, der
daran gewöhnt war, täglich auf die Hilfe Dritter angewiesen zu sein. Bei einem
guten Chef sind oftmals die kleinen Taten motivierender als die groÃen Worte.
Loben können viele, echte Anerkennung zeigen die wenigsten. Und deshalb würden
sie alle für ihn durchs Feuer gehen. Jederzeit. Unbedingte Loyalität, auch
innerhalb des Teams. Solveigh würde alles in ihrer Macht Stehende für ihn tun,
so wie er für sie. Und genau diesen Beweis galt es jetzt anzutreten. Er rollte
auf dem Flachdach Richtung Norden, von dort hatte man eine schöne Aussicht auf
die pittoreske Altstadt mit ihren Kanälen und Backsteinhäusern. Mit sicherem
Abstand zum Rand drückte er die Feststellbremse, damit der Rollstuhl sich nicht
von selber in Bewegung
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