Operation Overkill
den Umschlag auf und entnahm ihm drei Blatt Papier. Er betrachtete zunächst die verschnörkelte Unterschrift am Ende, dann das Wappen auf der ersten Seite. Anschließend warf er einen kurzen Blick zu Richter und begann zu lesen. Als er mit der ersten Seite fertig war, blickte er auf. »Ich nehme doch an, dass es sich hierbei nicht um irgendeinen Scherz handelt?«
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»Nein. Das ist kein Scherz – ich wünschte, es wäre so.«
Sir James Auden schüttelte den Kopf und las weiter.
Schließlich legte er die Blätter hin und starrte Richter an. Er wirkte mit einem Mal älter, und seine Hand zitterte leicht. »Das ist ja ungeheuerlich. Unglaublich.«
»Sie müssen es glauben, Ambassador. Es ist die Wahrheit, und ich bin auf Ihre Hilfe angewiesen, damit es nicht dazu kommt.«
Auden blickte auf den Brief, dann zu Richter und schüttelte erneut den Kopf. »Sind Sie sich dessen sicher?«
»Ganz sicher.«
»Dieser Brief«, sagte der Botschafter leise, »enthält keine näheren Einzelheiten, nur eine allgemeine Ab-sichtserklärung. Und ich glaube, ich möchte auch nichts Näheres wissen. Darüber werden Sie gewiss mit Herron sprechen. Was genau erwarten Sie von mir?«
Richter erklärte es ihm, und fünf Minuten später verließ er das Büro des Botschafters, um sich mit Tony Herron zu treffen, dem Stationsleiter in Paris. Das Allerheiligste – der Bereich der Botschaft, der vom Geheimdienst genutzt wurde – war nicht allzu groß, und dementsprechend begrenzt war auch die Anzahl der Mitarbeiter. Immerhin galten die Franzosen zumindest offiziell als Bündnispartner. Richter war Tony Herron persönlich noch nie begegnet, aber er kannte seinen Namen aus den Berichten des SIS.
Herron war über eins achtzig groß, rotblond und 511
wirkte etwas zerknittert, genau wie Richter. Er bat ihn in sein Büro und kam gleich zur Sache. »Ich habe etliche streng geheime und dringende Mitteilungen vom SIS aus London erhalten«, begann Herron. »Dem entnehme ich, dass bei unseren Nachbarn im Osten etwas im Gange ist. Trotz Glasnost und allem anderen.«
»Vollkommen richtig. Soll ich Ihnen die Hintergründe gleich darlegen, oder wollen wir abwarten, bis wir mit den Franzosen gesprochen haben?«
»Das kann warten. Aber eine Frage. Unter welche Klasse fallen die Informationen, die Sie haben?«
»Klasse eins – ohne jeden Zweifel.«
Alle Geheimdienste bewerten die Informationen, die sie erhalten, anhand der Quelle, von der sie stammen, und ihres Gewichts. In Großbritannien gilt eine Erkenntnis der Klasse eins als hundertprozentig zutreffend, ohne dass ein Irrtum vorliegen könnte; Klasse zwei ist wahrscheinlich zutreffend, Klasse drei möglicherweise. Mit Klasse vier werden Informationen bewertet, die wahrscheinlich nicht zutreffen; Klasse fünf bedeutet, dass es sich nachweislich um ei-ne Fehlinformation handelt. Richters Informationen stammten größtenteils von Orlow, der sie ihm nur widerwillig gegeben hatte, aber er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sie der Wahrheit entsprachen.
»Das hatte ich befürchtet. Ist der –« Herron wurde unterbrochen, als das Telefon klingelte. Er meldete sich und hörte ein, zwei Minuten lang zu, ohne etwas zu sagen. »Danke, Eure Exzellenz«, sagte er, legte den Hörer auf und wandte sich an Richter. »Den Botschaf-512
ter haben Sie jedenfalls überzeugt. Das war Seine Hoheit persönlich – wir haben in fünfzehn Minuten einen Termin bei der DST an der Rue de Saussaies.«
Die Direction de la Surveillance du Territoire ist die französische Spionageabwehr, die ebenso wie der britische MI5 und der Special Branch im Inland tätig ist und ähnliche Aufgaben versieht. Sie untersteht dem Innenministerium und kann sich jederzeit der Mittel und Möglichkeiten des Renseignements Généraux bedienen, der nachrichtendienstlichen Abteilung der französischen Polizei. Die DST war es zum Beispiel, die Ende März 1987 ein Spionagenetz des Warschauer Paktes aushob, das Daten über das HM-60-Triebwerk der von der europäischen Weltraumbehörde geplanten Raumfähre Hermes an den Osten weitergegeben hatte.
Richter warf einen Blick auf seine Uhr. »Wie lange brauchen wir dorthin?«
»Wir sind im Nu dort – es ist gleich um die Ecke, an der Place Beauvau«, erwiderte Herron. Er drückte auf eine Taste an seinem Telefon, teilte dem Offizier vom Dienst mit, wo er zu erreichen sei, schnappte sich seine Jacke und ging zur Tür.
Französisches Innenministerium,
Rue de Saussaies, Paris
Herron und
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