Operation Overkill
Richter wurden in einen kleinen Konferenzraum im zweiten Stock geleitet, wo sie von drei 513
Männern erwartet wurden, die an einem langen Tisch saßen. Der Mann am Kopfende teilte in perfektem Englisch mit, dass er Colonel Pierre Lacomte sei, der ranghöchste Offizier, stellte dann die beiden anderen Franzosen als Mitarbeiter der DST vor und bat die Engländer, Platz zu nehmen. Tony Herron umriss kurz den Grund ihres Besuches, stellte Richter als Kollegen vom SIS in London vor und erteilte ihm das Wort.
»Wir haben ein Problem«, begann Richter. »Und Sie ebenfalls.« Er öffnete seinen Aktenkoffer, holte die Einsatzakte heraus, legte sie vor sich auf den Tisch und schlug sie auf. »Wir haben dieses Unternehmen mit dem Codenamen ›Overkill‹ versehen, weil das durchaus treffend ist. Was ich Ihnen mitteilen werde, wird Ihnen möglicherweise höchst unwahrscheinlich vorkommen, vielleicht sogar unglaublich. Aber ich kann Ihnen versichern, dass wir es mit Fakten zu tun haben.« Richter warf einen Blick zu den anderen Männern im Raum – niemand machte den Eindruck, als würde er gleich einnicken. »Bevor ich die derzeitige Lage erkläre, möchte ich Ihnen ein paar Hinter-grundinformationen geben – einen kurzen histori-schen Abriss, wenn Sie so wollen.« Richter wandte sich an die beiden DST-Männer. »Es geht teilweise um technische Begriffe, also sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie das eine oder andere Wort nicht verstehen. Vielleicht kann es Colonel Lacomte dann für Sie übersetzen.«
Lacomte nickte. »Im Jahr 1958«, begann Richter, 514
»befasste sich ein gewisser Sam Cohen, der seinerzeit als Analytiker für strategische Kernwaffen bei der Rand Corporation in Kalifornien tätig war, mit den Nebenwirkungen, die durch die Explosion schwerer thermonuklearer Waffen ausgelöst werden. Dabei fiel ihm auf, dass bei der Explosion einer so genannten Wasserstoffbombe eine Vielzahl von Neutronen freigesetzt wird. Für gewöhnlich ist eine Wasserstoffbombe mit einem Uranmantel umgeben, der unter Neutronenbeschuss gerät und so zur Sprengkraft dieser Waffe beiträgt. Wenn man eine Bombe ohne diesen Uranmantel herstellen würde, so überlegte Cohen, dann hätten die freigesetzten Neutronen eine erheblich größere Reichweite. Da Neutronenstrahlung absolut tödlich ist, hätte man eine mörderische Waffe, die aber gleichzeitig eine deutlich geringere Sprengkraft besitzt und damit weitaus weniger Schäden an Ge-bäuden verursacht. Und sie hätte noch einen anderen Vorteil. Der radioaktive Niederschlag entsteht hauptsächlich durch die bei der Detonation eines nuklearen Sprengkörpers hochgerissenen radioaktiven Teilchen.
Bei dieser Waffe aber handelt es sich um einen thermonuklearen Sprengkörper, bei dem die Energie durch die Verschmelzung leichter Atomkerne entsteht. Dazu ist nur ein kleiner nuklearer Sprengkörper als Zünder erforderlich. Eine Bombe dieses Typs würde also nur etwa ein Prozent der Strahlung freisetzen, die bei einem auf dem Prinzip der Kernspaltung beruhenden Sprengkörper vergleichbarer Größe entsteht. Entsprechend geringer wäre auch der Fallout. Zudem klingt 515
die Neutronenstrahlung rasch ab, sodass das betroffene Gebiet innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne nach der Detonation betreten werden könnte. Das war die Geburtsstunde der Neutronenbombe, auch ›Enhanced Radiation Weapon‹ genannt.«
»Die ERW, Mr. Beatty? Das ist doch wohl nichts Neues, oder?« Colonel Lacomte hatte offenbar etwas anderes erwartet als einen Vortrag über die Wir-kungsweise von Kernwaffen.
»Nein, Colonel, das ist nichts Neues, aber es ist ein wichtiger Ausgangspunkt. Jedenfalls wurde die Neutronenbombe zu einem Spielball der Politik. Die Regierung Kennedy beschloss, auf den Bau dieser Waffe zu verzichten, weil dies die Beziehungen zur Sowjetunion belasten könnte. Doch als die Russen sich nicht an das bestehende Moratorium zum Test von Atomwaffen hielten, änderten die Amerikaner ihre Meinung.
Die erste amerikanische Neutronenbombe wurde 1962
getestet, und in den siebziger Jahren begann man in großem Maßstab mit der Produktion dieser Waffe, als Präsident Carter vorschlug, mit Neutronenwaffen be-stückte Lance-Raketen und Artilleriegranaten in Europa zu stationieren. Dieser Beschluss führte zu derart heftigen Protesten, dass Carter schließlich einen Rückzieher machte und die Stationierung auf unbegrenzte Zeit verschob. Reagan, der eher ein Falke war, bewilligte die weitere Produktion von
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