Operation Romanow
den Regalen. »Kennen Sie den Ort an der Küste, wo wir morgen picknicken?«
»Ja, ich war oft mit meinem Verlobten dort.«
Andrew nahm ein Buch aus dem Regal und blätterte ein wenig darin. »Wo ist er jetzt?«
»Er gilt seit drei Jahren als vermisst. Er hat bei der britischen Armee gedient.«
Andrew hob den Kopf. »Das tut mir leid. Gibt es keine Hoffnung mehr?«
»Es gibt immer Hoffnung. Ich werde Sean niemals aufgeben. Er war der liebenswerteste und warmherzigste Mann, den ich jemals kennengelernt habe.«
»Er hat bei den Briten gedient, aber Sie sind eine irische Rebellin. Das verstehe ich nicht.«
»Das erkläre ich Ihnen ein anderes Mal. Was hat Boyle Ihnen über mich erzählt?«
Andrew stellte das Buch zurück ins Regal. »Genug, um mich neugierig zu machen. Sie haben einen irischen Vater, eine amerikanische Mutter und in Sankt Petersburg sowie in Amerika gelebt. Als Achtzehnjährige waren Sie Gouvernante der Zarenkinder, später wurde eine irische Rebellin aus Ihnen, nach der die Behörden gefahndet haben. Für eine vierundzwanzigjährige Frau ein recht bewegtes Leben. Das ist alles, was ich weiß, abgesehen von Ihrer offensichtlichen Schwäche.«
»Welche ist das?«
»Ihr irisches Temperament«, erklärte Andrew mit einem jungenhaften, charmanten Lächeln.
»Lassen Sie mein Temperament mal meine Sorge sein, Juri.« Als Lydia sich zu dem Feuer vorbeugte, um sich die Hände zu wärmen, erhellten die Flammen ihr Gesicht. »Boyle hat gesagt, Sie haben eine Frau und einen Sohn?«
»Nina hat sich von mir scheiden lassen.«
»Was ist passiert?«
Andrew antwortete nicht, sondern starrte mit dunklen Augen in das Feuer, als würde er über eine unüberwindbare Kluft schauen. »Das erzähle ich Ihnen auch irgendwann einmal, aber nicht heute.«
»Sie müssen Sie noch immer lieben. Warum sonst sollten Sie zurückkehren?«
Andrew warf die Zigarette ins Feuer und ging auf sein Zimmer zu. Plötzlich blieb er stehen und sah sie direkt an. »Wann waren Sie das letzte Mal in Russland, Lydia?«
»Vor fünf Jahren.«
»Mittlerweile hat sich alles verändert. Ich hoffe, Sie wissen, worauf Sie sich einlassen. Unsere Chancen, Jekaterinburg ohne Probleme zu erreichen, sind nicht besonders groß. In dem Land herrscht Chaos, überall wimmelt es von Banditen und Deserteuren. Wenn wir nicht von den Roten geschnappt werden, werden wir vermutlich ausgeraubt oder getötet. Oder beides.«
»Wollen Sie mir Angst machen?«
»Nein, ich möchte nur, dass Sie den Ernst der Lage erkennen.«
»Ich bin gut in der Lage, auf mich aufzupassen.«
»Zweifellos. Ich an Ihrer Stelle würde aber versuchen, mein Temperament ein wenig zu zügeln. Wenn Sie einem Rotarmisten an einer Kontrollstation gegenüber einmal den falschen Ton anschlagen, könnte das für uns beide das Ende bedeuten.«
»Hanna Wolkowa hat mich bereits aufgeklärt, danke. Außerdem bin ich nicht dumm.«
Andrew lächelte spöttisch. »Ich bin froh, das zu hören. Gute Nacht, Lydia.«
Ihre Blicke trafen sich, und Lydia spürte wieder deutlich die starke Anziehung zu ihm. Sie geriet in Erregung, und das Adrenalin strömte durch ihre Adern. Als ihr die Röte in die Wangen stieg, drehte sie den Kopf zur Seite.
Doch Juri Andrew war bereits gegangen und hatte die Tür seines Zimmers hinter sich geschlossen. Draußen wurde es immer stürmischer, doch Lydia nahm nichts anderes wahr als das heftige Pochen ihres Herzens.
48. KAPITEL
Dublin
Am nächsten Tag zur Mittagszeit betrat Boyle das Shelbourne Hotel an Dublins großem Stadtpark, dem St. Stephen’s Green.
In der mit grünem Farn und Topfpflanzen dekorierten Lounge tönten Walzerklänge aus einem Grammofon. Im Restaurant saßen fast nur britische Offiziere außer Dienst mit ihren Damen beim Lunch.
Boyle setzte sich an einen freien Tisch am Fenster und bestellte sich Kaffee und ein paar belegte Sandwiches. Fünf Minuten später wurden ihm die Sandwiches serviert. Er biss gerade hinein, als der Berater des amerikanischen Botschafters in die Lounge spazierte. Er trug einen tadellos sitzenden Flanellanzug von Brooks Brothers und hielt einen Filzhut in der Hand.
»Wie ich sehe, haben Sie schon ohne mich angefangen«, sagte MacKenzie, als er sich in den Sessel gegenüber setzte.
»Ich musste unbedingt etwas essen, Mack. Bedienen Sie sich. War die Überfahrt stürmisch?«
»Diesmal war es gar nicht so schlimm. Wie läuft es?«
»Juri Andrew und Lydia Ryan finden sich gut in ihre Rollen ein. Ich habe Fotos von ihnen
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