Operation Romanow
spürte ich, dass Kummer und Wut an Ihnen nagen. Und ich spreche nicht nur über das, was mit Ihrem Land geschehen ist. Ich meine Sie persönlich.«
»Was soll das heißen?«
»Ich habe genug über die Menschen gelernt, um zu wissen, dass Wut, Bitterkeit und seelische Verletzungen immer von Kränkungen, Angst oder Enttäuschungen herrühren. Sie verbergen etwas. Habe ich recht?«
Lydia errötete. Andrew schien einen wunden Punkt getroffen zu haben. »Ich finde, ich habe Ihnen genug erzählt.«
»Darf ich Ihnen sagen, was ich sonst noch gelernt habe? Wir offenbaren niemals unser wahres Ich. Wie Salome bei ihrem Tanz. Sie versteckte sich hinter sieben Schleiern vor der Welt. Die meisten von uns legen ihre Schleier niemals ab. Sie bieten uns Sicherheit und eine Möglichkeit, uns zu schützen. Und genau das tun Sie jetzt.«
»Ach ja? Sie sind wohl ein Experte, was?« Lydia sprang auf und riss die Decke vom Boden hoch, worauf das Essen, die Teller und die Weinflasche in den Sand fielen. »Ich finde, es ist Zeit, dass wir diesen Unsinn beenden und zurückfahren!«
»Ich freue mich, dass Sie beide sich so gut vertragen. Genau wie ein richtiges Ehepaar«, sagte eine Stimme hinter ihnen.
Sie drehten sich um. Vor ihnen stand Boyle und lächelte sie an.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte Lydia.
»Ich hielt es für das Beste, gleich hierherzukommen, um es Ihnen mitzuteilen. Wir müssen unseren Plan ändern. Wir brechen morgen nach Russland auf.«
51. KAPITEL
Briar Cottage, Irland
Am Abend zog plötzlich ein Gewitter auf. Es stürmte, und der Regen prasselte auf das Strohdach des Cottage und peitschte gegen die Fensterscheiben.
Andrew saß in seinem Bett und las. Auf dem Nachttisch lag ein Stapel Bücher. Die Petroleumlampe brannte, und eines der Fenster war einen Spalt geöffnet.
Als es an seiner Tür klopfte, hob er den Kopf und sah Lydia im Türrahmen stehen.
Der abgetragene Aranpullover, den sie trug, war ein paar Nummern zu groß. Sie sah darin unglaublich jung und verletzlich aus. »Darf ich reinkommen. Ich möchte mich entschuldigen.«
»Wofür?«
»Dass ich heute Nachmittag so wütend geworden bin.«
»Schon vergessen. Was haben Sie da für ein Buch?«
Lydia hielt ein schmales Buch mit einem braunen Ledereinband in der Hand. »W.B. Yeats. Ein irischer Dichter, den ich sehr mag. Ich habe es auf einem der Regale entdeckt. Die Seite mit meinem Lieblingsgedicht habe ich markiert.«
»Darf ich?«
Lydia setzte sich ans Ende des Bettes und reichte Andrew das Buch. Er schlug die mit dem Seidenbändchen markierte Seite auf und überflog das Gedicht. Ein paar Zeilen las er laut vor:
»Wie viele liebten dich wahrhaftig oder begehrten dich nur,
wenn du vor Anmut und Schönheit erstrahltest,
doch einer liebte deine unstete Seele
und den Kummer auf deinem wechselvollen Gesicht.«
Andrew verstummte und hob den Blick. Die Zeilen schienen ihn berührt zu haben. »Ich weiß nicht, ob ich es verstanden habe. Auf jeden Fall hört es sich schön an.« Er klappte das Buch zu. »Haben Sie Angst, weil die Reise nach Russland nun beginnt?«
Lydia strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich fühle. Ich wünschte einfach, alles wäre vorbei, verstehen Sie? Aber das ist nicht der Grund, warum ich mit Ihnen sprechen wollte.«
»Sondern?«
»Vielleicht hatten Sie recht mit den sieben Schleiern und dass sie eine Möglichkeit bieten, sich zu schützen. Ich glaube, ich habe mich immer als Außenseiterin gefühlt, seitdem ich ein Kind war und meine Familie so viel gereist ist. Einige hielten mich für privilegiert, vielleicht sogar für verwöhnt, doch das war ich wirklich nicht. Ich war einfach einsam und nirgendwo richtig zu Hause. Bis ich Sean traf. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich stark zu einem anderen Menschen hingezogen.«
Lydia zögerte kurz, als die schmerzvollen Erinnerungen in ihr aufstiegen. »Es gibt eine alte irische Redensart: ›Mögest du mich bis ans Ende meiner Tage begleiten.‹ Das drückt aus, was ich für ihn empfunden habe.«
Das Fenster klapperte im Wind. Die Flamme in der Petroleumlampe begann zu flackern und drohte zu erlöschen. Andrew legte das Buch aus der Hand. »Es ist gut, Lydia«, sagte er in sanftem Ton. »Wir haben alle ein Recht auf unsere Privatsphäre. Ich hätte nicht so neugierig sein dürfen, und Sie müssen mir nichts erklären.«
Ihre Augen wurden feucht. »Nein, ich glaube, ich muss es jemandem erzählen. Manchmal, verstehen
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