Operation Romanow
Schützen stehen elf Personen gegenüber. Ich ordne jedem von Ihnen ein Opfer zu. Sobald wir den Raum betreten, lese ich den Exekutionsbefehl vor und erschieße unverzüglich Nikolaus Romanow. Jeder von Ihnen exekutiert das Opfer, das ihm zugeteilt wurde. Zielen Sie aufs Herz, sodass weniger Blut fließt.«
Einen Augenblick herrschte Grabesstille in dem Büro.
Jakow konnte die Anspannung fast mit den Händen greifen. »Gibt es noch Fragen?«
Niemand meldete sich.
Jakow warf einen Blick auf seine Taschenuhr. »Bis zur Hinrichtung sind Sie vom Dienst freigestellt. Sie dürfen das Haus aber nicht verlassen.«
Die Männer gingen hinaus. Nur der Kommandant blieb in seinem Büro sitzen. »Bleiben Sie hier?«, fragte er Jakow.
»Nein, ich komme um Mitternacht zurück. Ich muss die Beseitigung der Leichen bezeugen, ehe ich mit meinem Bericht nach Moskau zurückkehre. Inzwischen muss ich noch etwas zu Ende bringen.«
»Die feindlichen Agenten suchen?«
Jakow nickte mit ernster Miene und verschwand durch die Tür.
110. KAPITEL
Nowo-Tichwinski-Kloster, Jekaterinburg
Lydia öffnete die Tür zur Kapelle, huschte hindurch und schloss sie wieder. Als das leise Knarzen der Scharniere verhallt war, herrschte Stille in der Kapelle.
Die Flammen der Bienenwachskerzen flackerten. Lydia spürte die ungeheure Ruhe, die sie hier umgab. Es war fast so, als wäre sie in warmes Wasser eingetaucht.
Sie kniete sich vor einer Ikone der Heiligen Jungfrau mit dem Kind in eine Bank und verlor jedes Zeitgefühl. Schließlich hörte Lydia Schritte auf den Steinplatten und das Rascheln einer Tracht. Sie drehte sich um und sah, dass Schwester Agnes auf sie zukam.
Die Nonne beugte mit Blick auf den Altar ihr Knie und bekreuzigte sich. »Da sind Sie. Verzeihen Sie, dass ich Sie beim Beten störe.« Sie musterte Lydia aufmerksam. »Sie sehen verwirrt aus. Machen Sie sich Sorgen, dass Ihr Freund nicht zurückkehrt?«
»Sieht man mir das an?«
»Ich mache mir auch Sorgen, aber Sie scheinen persönlich betroffen zu sein. Lieben Sie ihn, mein Kind?«
»Er ist der erste Mann, zu dem ich mich seit langer Zeit hingezogen fühle.«
»Und das verwirrt Sie?«
Lydia hob den Kopf und betrachtete die Jungfrau mit ihrem Kind. »Es ist alles eine Frage des menschlichen Herzens, nicht wahr? Wie leben wir? Was tun wir? Woher wissen wir, was richtig und was falsch ist? Ich vermute, ich kam hierher, um Gott um Führung zu bitten. Ich fühle mich verloren und habe große Angst.«
Die Nonne blickte auf den Altar. »Für mich ist es einfach die Freude, hier an diesem Ort zu sein, die mich beruhigt. Hier bin ich mir meiner menschlichen Fehler und meiner Schwächen immer deutlich bewusst, und ich spüre, wie unvollkommen ich in Gottes Gegenwart bin. Und dennoch weiß ich um sein unendliches Mitgefühl und seine Liebe.« Schwester Agnes sah wieder in Lydias Richtung. »Wissen Sie, was die meisten Menschen nicht verstehen? Dass Gott uns bereits unsere Sünden vergeben hat, ehe wir sie begangen haben.« Sie umfasste sanft Lydias Hand. »Ich sehe, dass Sie leiden. Was auch immer Sie beunruhigt, scheuen Sie sich nicht, mir Ihr Herz auszuschütten.«
Lydia zögerte einen Moment, dann platzte plötzlich alles aus ihr heraus, was sie belastete. Sie erzählte Schwester Agnes von Sean, der seit drei Jahren vermisst wurde, von ihrem ungeborenen Kind, ihren verwirrenden Gefühlen für Andrew, dem tragischen Tod Sergejs und ihrer Angst vor der schier unlösbaren Aufgabe, die ihr auferlegt worden war. Es fiel ihr schwer, die Fassung zu bewahren.
»Es war nicht einfach, nicht wahr?«, sagte Schwester Agnes. »Ihr Kind und Ihren Verlobten zu verlieren, und jetzt all das?« Die Nonne bekreuzigte sich. »Ich werde für Ihren Freund und für die Seele seines Kindes beten.«
»Juri ist ein ehrenwerter Mann. Ich glaube, er ist zwischen dem Pflichtgefühl, das er gegenüber der Mutter seines Sohnes empfindet, und seinen Gefühlen für mich hin und her gerissen.«
»Ich verstehe.«
Lydia legte eine Hand auf ihren Bauch. »Nein, Schwester, Sie verstehen nicht. Er und ich, wir … wir waren zusammen. Vielleicht habe ich mir insgeheim gewünscht, dass es geschehen ist, weil ich noch einmal neues Leben erschaffen wollte. Das klingt gewiss dumm. Keiner von uns weiß, ob wir lebend aus dieser Sache herauskommen, aber im Krieg handeln die Menschen oft unvernünftig, nicht wahr? Wir folgen unseren ursprünglichsten Instinkten, um zu überleben.«
»Egal, welches Unrecht Sie begangen
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