Operation Romanow
getrunken haben, vermutlich nicht.«
»Dann brauche ich einen Freiwilligen, der in einer Uniform der Rotarmisten, so schnell er kann, zum Militärdepot läuft. Ich wette, der Kommandant will den Lastwagen vor dem Haus stehen haben, bevor er die Hinrichtungen durchführt. Wenn uns irgendein Vorwand einfällt, damit der Laster erst später am Ipatjew-Haus ankommt, würde sich alles verzögern, und ich hätte Zeit nachzudenken.« Boyle wandte sich erneut Markow zu. »Können Sie Sprengstoff besorgen?«
»Ich bin Leichenbestatter und kein Bombenbauer. Warum?«
»Wir müssen für Ablenkung sorgen. Jekaterinburg ist eine Bergbaustadt. Hier herrscht bestimmt kein Mangel an Dynamit.«
Markow zuckte mit den Schultern. »Wenn ich genug Zeit hätte, vielleicht, aber die Zeit ist zu knapp.«
»Versuchen Sie es!«
»Da wäre noch etwas. Kasan …«, sagte Sorg und massierte sein Kinn.
»Was ist mit ihm?«
»Ich habe eine Rechnung mit ihm offen.«
»Vergessen Sie es und konzentrieren Sie sich auf das, was jetzt wichtig ist. Was können Sie uns noch sagen?«
»Wer ist Andrew?«
Juri Andrew runzelte die Stirn. »Ich. Warum?«
»Jakow hat mich beauftragt, Ihnen etwas mitzuteilen und Ihnen das hier zu geben.«
Sorg zog den Umschlag aus der Tasche. »In diesem Umschlag soll eine Wegbeschreibung zu einem verlassenen Getreidespeicher etwa einen Kilometer nördlich des Ipatjew-Hauses stecken. Jakow will sich dort in einer Stunde mit Ihnen treffen. Er hat gesagt, Ninas Leben könnte davon abhängen.«
Andrew erstarrte und nahm den Umschlag entgegen.
»Er will, dass Sie alleine kommen.«
Lydia betrat den Anbau der Leichenhalle.
Andrew beugte sich gerade über einen Tisch und kontrollierte den Nagant-Revolver, ehe er Patronen aus einer Pappschachtel in seine Hosentaschen umfüllte.
»Meinst du wirklich, es ist sicher, allein zu gehen?«, fragte sie ihn.
»Vermutlich nicht. Darum bewaffne ich mich auch bis an die Zähne.«
Als Andrew den Revolver in die Tasche steckte, legte Lydia eine Hand auf seinen Arm. »Ich habe ein komisches Gefühl dabei, Juri. Wirklich.«
»Wie soll ich sonst herausfinden, was mit Nina und Sergej geschehen ist? Wie soll ich sonst erfahren, ob ich sie noch retten kann?«
»Was meinst du, was Jakow von dir will?«
»Uns aufhalten. Daran hat sich garantiert nichts geändert. Und wer weiß, was er sonst noch im Schilde führt.«
»Was wirst du tun? Wie wirst du dich verhalten?«
»Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Das muss ich während des Gesprächs spontan entscheiden.«
»Kann ich dich nicht begleiten?«
Andrew zog seine Jacke an. »Nein, es ist besser, wenn du mit der Schwester ins Kloster zurückkehrst. Bitte.«
Plötzlich hatte Lydia das Bedürfnis, Andrews Nähe zu spüren. Sie schlang die Arme um seinen Nacken und küsste ihn. Eine Weile standen sie eng umschlungen beieinander, bis Andrew schließlich sagte: »Ich muss gehen.«
Jakows Umschlag lag ungeöffnet auf dem Tisch. Andrew nahm ihn in die Hand.
Als er zur Tür hastete, schlug er den Kragen hoch, drehte sich um und musterte Lydia mit seltsamer Miene. »Darf ich dir etwas sagen? Ich glaube, du hast recht. Unsere Herzen sind groß genug, um mehr als einen Menschen im Leben zu lieben. Ich wünschte, wir hätten uns zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort getroffen.«
Lydia erblasste und starrte ihn mit sehnsüchtigem Blick an. Sie legte einen Finger auf seine Lippen und sagte in besorgtem Ton: »Sei vorsichtig. Bist du sicher, dass du das Lagerhaus findest?«
Andrew riss den Umschlag auf. »Ich habe Jakows Wegbeschreibung.«
Er nahm zwei zusammengefaltete Blätter aus dem Umschlag und faltete sie auseinander – eine grobe Skizze und einen handgeschriebenen Brief.
Als Andrew die Zeilen las, wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Er sagte kein Wort und riss vor Entsetzen den Mund auf. Tränen traten ihm in die Augen, und er keuchte.
»Was ist los?«, fragte Lydia.
»Es geht um Sergej«, erwiderte Andrew benommen und reichte ihr den Brief.
109. KAPITEL
Ipatjew-Haus, Jekaterinburg
Jakow fuhr in dem Fiat-Lastwagen auf die Absperrung zu.
Die Wachen winkten ihn durch. Er stieg die Treppe hinauf und betrat Jurowskis Büro. Der Kommandant sprang auf. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und wirkte erschöpft.
»Kommissar, ich habe Sie früher erwartet. Haben Sie die feindlichen Agenten geschnappt?«
Mit nachdenklicher Miene ging Jakow zu dem Samowar, der in einer Ecke blubberte, goss sich ein Glas heißen Tee ein und gab
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