Operation Romanow
abzählen, wie oft ich meinen Sohn gesehen habe, seitdem der Krieg begonnen hat.«
Jakow empfand Mitleid mit Andrew und legte eine Hand auf seinen Arm. »Dieser Krieg ist für uns alle hart. Aber wenn ich dir jetzt sage, dass du alles, was du dir wünschst, bekommen wirst und das Lager als freier Mann verlassen kannst? Dass du wieder bei deiner Frau und deinem Sohn sein und dein Leben neu beginnen kannst, Juri?«
»Dann würde ich sagen, du hättest zu viel getrunken.«
»Ich bin nicht nur gekommen, um dir dein Todesurteil zu überbringen«, sagte Jakow. »Du und ich, wir standen uns lange Zeit so nahe wie Brüder. Wir lagen in denselben Schützengräben. Meine Loyalität dir gegenüber ist so stark wie immer, auch wenn wir in diesem Krieg nicht für dieselbe Sache kämpfen. Es ist ein Krieg, der die besten Freunde zu erbitterten Feinden gemacht hat, doch ich lasse nicht zu, dass uns so etwas auch passiert.«
»Was willst du mir sagen, Leonid?«
»Als ich erfahren habe, dass du hingerichtet werden sollst, bin ich zu Lenin gegangen. Ich habe ihm gesagt, wie stolz ich war, mit dir gedient zu haben. Ich habe ihm erzählt, dass dein Vater ein Mann des Volkes war, ein guter Arzt, der niemals eine Kopeke von seinen Patienten nahm, die sich keine Behandlung leisten konnten.«
»Leonid …«
»Du willst es vielleicht nicht hören, aber lass mich trotzdem ausreden, Juri. Dein Vater war einer der besten Menschen, die ich jemals kennengelernt habe. Er hat für meine Familie gesorgt und es Stanislaw und mir ermöglicht, zur Schule zu gehen. Er hat alles getan, um meine Mutter zu retten, bis sie an Tuberkulose starb. Und nach ihrem Tod hat er sich um uns gekümmert wie um seine eigenen Kinder. Ich habe Lenin gesagt, dass ich dir mein Leben verdanke. Im Gegenzug habe ich um deines gebeten.«
»Was sagst du da?«
»Dass ich hierhergekommen bin, um dir deine Freiheit anzubieten. Lenin stimmt einer Begnadigung zu. Aber unter einer Bedingung.«
»Unter welcher?«
»Dass ich dich überzeuge, für die Sache der Bolschewisten einzutreten.«
»Ich soll mich den Roten anschließen?! Bist du verrückt, Leonid?«
»Du musst es nicht erfreuten Herzens tun, Juri. Tu einfach so, wenn es sein muss. Ich könnte dich in meinen Stab aufnehmen. Ich möchte nur, dass du überlebst. Andere haben auch schon die Seite gewechselt. Du kannst doch sicherlich zustimmen, wenn es bedeutet, dein Leben zu retten und wieder bei deiner Frau und deinem Sohn zu sein, oder?«
»Und was ist mit meinen Männern?«
Eine eisige Brise fegte Schnee über das Gelände. Jakow schlug den Mantelkragen hoch und schüttelte den Kopf. »Ich habe den Befehl erhalten, die Gefangenen zu einem anderen Lager zu bringen, das zwei Tagesmärsche von hier entfernt liegt. Ich kann nichts für sie tun.«
»Leonid, sie tragen nur Fetzen auf dem Leib, verdammt! Bei diesem Wetter werden sie diesen Gewaltmarsch niemals überleben!«
»Darum geht es wohl in erster Linie. Patronen kosten Geld, aber Schuhleder ist billig. Genosse Lenin besteht darauf, dass diesem Befehl Folge geleistet wird. Dieses Lager soll niedergebrannt werden, sobald wir es verlassen haben.«
»Wie hast du erfahren, dass ich hingerichtet werden soll?«, fragte Andrew leise.
»Nina hat gehört, dass eure Linien in der Nähe von Perm überrannt und dass du und deine Männer gefangen genommen wurden. Mehr hat sie nicht von den Behörden erfahren, darum stellte sie den Kontakt zu mir her. Als ich mich erkundigt und von dem Hinrichtungsbefehl gehört habe, bin ich zu Lenin gegangen.«
»Wie geht es Nina? Und Sergej?«, fragte Andrew, den der Kummer zu überwältigen drohte.
»Natürlich ist es für sie in diesem Krieg wie für alle Menschen hier nicht einfach. Aber deine Frau und dein Sohn kommen einigermaßen zurecht. Ich werde versuchen, ihnen, so gut ich kann, zu helfen und sie mit zusätzlichen Lebensmitteln zu versorgen.«
»Dafür bin ich dir dankbar.« Andrew schwieg eine Weile, ehe er in betrübtem Ton fortfuhr. »Wie kann ich meinen Männern den Rücken kehren, Leonid? Sag es mir. Sie haben seit Jahren Seite an Seite mit mir gekämpft. Es ist nicht nur meine Uniform, die ich verraten würde, sondern auch meine Ehre.«
Mit grimmiger Miene setzte Jakow die Mütze auf, beugte sich zu Andrew vor und legte eine Hand auf seine Schulter. »Ich weiß, dass du ein aufrechter Mann mit Prinzipien bist, Juri. Doch ich bitte dich, denk dieses eine Mal an dich. Denk an deine Familie. Ich flehe dich an,
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