Operation Romanow
Juri!«
»Wie viel Zeit bleibt mir noch?«
»Du sollst im Morgengrauen hingerichtet werden.«
9. KAPITEL
Sibirien
Juri Andrew saß auf dem Bett. Es schneite. Er blickte auf das Foto seiner Frau und seines Sohnes, das auf dem Kissen aus Sackleinen lag.
Es verging kein Tag, an dem er sich nicht daran erinnerte, wann es aufgenommen worden war. Es war ein schöner Sommertag gewesen, und er hatte Heimaturlaub. Er fuhr mit Nina und Sergej mit dem Zug zum Newa-Strand vor den Toren von Sankt Petersburg. Der Junge war ein Jahr alt, und das Pfeifen des Zuges begeisterte den Kleinen. Jedes Mal, wenn Andrew das Geräusch nachahmte, begann Sergej zu kichern.
Es war genau an diesem Tag, als Sergej seine ersten unsicheren Schritte im Sand machte und mit einem breiten, triumphierenden Lächeln im Gesicht auf den Hintern fiel. Nina war so glücklich, dass sie alle drei gemeinsam im Sand tanzten. Später kauften sie auf der Promenade Eis, und ein kleiner Klecks davon klebte bald schon auf Sergejs Nase. Er lachte darüber, und ein Strandfotograf machte diesen Schnappschuss von ihnen.
Es war eine glückliche Zeit.
Er und Nina hatten – ein Jahr nachdem er seine Ausbildung an der Militärakademie in Sankt Petersburg abgeschlossen hatte – geheiratet. Für ihn war es die natürlichste Sache der Welt, Nina zur Frau zu nehmen. Er kannte sie seit seiner Kindheit. Sie wirkte auf ihn immer wie ein Kind im Körper einer Frau, und er hatte stets das Gefühl, sie beschützen zu müssen.
Da er zum Oberleutnant befördert worden war, hatte er Anspruch auf ein kleines, aber gemütliches Haus aus roten Ziegelsteinen im Offiziersviertel seiner Kaserne. Nach zwei Fehlgeburten wurde drei Jahre nach der Heirat Sergej geboren.
Der blonde Junge, der das hübsche Aussehen seiner Mutter geerbt hatte, kam zwei Monate zu früh zur Welt. Zuerst sah es so aus, als würde er es nicht schaffen. Seine Lungen waren noch nicht vollständig entfaltet, doch wie durch ein Wunder klammerte er sich ans Leben und entwickelte sich seitdem prächtig.
Andrew genoss es, Vater zu sein, und wenn Sergej schlief, stand er oft an seinem Kinderbettchen und beobachtete ihn beim Schlafen. Der Gedanke, dass dieses kleine Wesen sein eigen Fleisch und Blut war, flößte ihm Ehrfurcht ein. Doch einen Monat später brach der Krieg aus. Dann folgte die Revolution, und die Welt wurde auf den Kopf gestellt. Der Zar dankte ab, die Roten ergriffen die Macht, und Russland wurde von blutigen Unruhen erschüttert.
Der Krieg gegen Deutschland lief für die Russen nicht gut, und Hunderttausende der besten jungen Männer Russlands wurden von den besser ausgerüsteten deutschen Truppen niedergemetzelt.
Die Armee des Zaren spaltete sich in zwei fast gleich große Lager. Die eine Hälfte bestand aus den Weißen, die dem ehemaligen Zaren treu ergeben waren, die andere Hälfte sympathisierte mit den unterschiedlichsten sozialistischen Splittergruppen, die in ganz Russland urplötzlich aus dem Boden schossen. Eine dieser kleinen Minderheitsparteien, die von Lenin angeführten Bolschewisten – oder die Roten –, wählten einen günstigen Augenblick, um die Macht zu ergreifen, worauf in Russland ein blutiger Bürgerkrieg ausbrach. Lenin hielt St. Petersburg und Moskau, doch der Rest des Landes versank in Chaos, während sich die Truppen der Weißen und der Roten erbitterte Kämpfe um die Vorherrschaft in Russland lieferten.
Die Gefühle überwältigten Andrew. Behutsam strich er über das Foto seiner Familie, als wäre es zerbrechlich. Als die Roten die Macht ergriffen und ihr Mann gefangen genommen wurde, brach für sie eine Welt zusammen.
Andrew wusste, dass ihr seine Gefangenschaft und die Ungewissheit, ob sie ihn jemals lebend wiedersehen würde, schwer zu schaffen machten. Er durfte seiner Frau nicht einmal schreiben.
Die Probleme in ihrer Ehe hatten jedoch schon, kurz nachdem er zu seiner Einheit gestoßen war, begonnen. Nina wünschte sich einen Ehemann und keinen Soldaten, der mehr Zeit mit seinen Kameraden verbrachte als mit seiner Frau. Es gab kaum noch intime Momente, und sie stritten sich immer häufiger. Die Liebe, die sie einst verbunden hatte, war im Laufe der Jahre der Gewohnheit gewichen, sie führten mittlerweile eine Beziehung, die eher von Freundschaft als von Leidenschaft geprägt war.
Noch schlimmer war, dass die Roten, nachdem sie die Macht ergriffen hatten, alle Kasernen der Weißen beschlagnahmten und die Familien der Soldaten auf die Straßen setzten.
Vor
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