Operation Romanow
einem Krankenzimmer gelangten, das von zwei uniformierten Polizisten bewacht wurde. »Was hat man Ihnen über den Zustand Ihres Bruders gesagt?«
»Nichts, außer dass er lebt. Warum?«, fragte Lydia ängstlich.
Einer der beiden Polizisten öffnete die Tür, nachdem Boyle ihm ein Zeichen gegeben hatte.
Er schob Lydia in ein Krankenzimmer. Ihr Herzschlag setzte aus, als sie Finn bewusstlos in einem Metallbett liegen sah. Sein Kopf war auf die Schulter gesunken, und seine verletzten Arme waren verbunden. Eine Hand hing mit Handschellen gefesselt am schmiedeeisernen Kopfteil des Bettes. Er sah so jung und verletzlich aus.
Dann fiel Lydias Blick auf die Mulde in der Decke, wo das linke Bein ihres Bruders hätte liegen müssen. »Finn«, rief sie heiser.
Boyle schob sie näher heran. »Sie mussten das Bein heute Morgen amputieren. Der Junge hat viel durchgemacht. Er ist noch nicht aus der Narkose aufgewacht.«
Auf Lydias Gesicht breitete sich Entsetzen aus. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken.
»Er ist noch nicht über den Berg«, sagte Boyle. »Aber die Ärzte sagen, er wird überleben.«
Lydia kämpfte mit ihren Gefühlen. Boyle schob sie noch näher an Finns Bett heran. Sie streckte den Arm aus und strich ihrem Bruder eine Strähne aus der Stirn.
»Finn, kannst du mich hören?« Lydia drückte seine Hand, doch er reagierte nicht. Verzweifelt legte sie eine Hand auf seinen Arm und fragte Boyle mit feuchten Augen: »Was haben sie mit ihm vor?«
»Das hängt von Ihnen ab. Wenn Sie uns Ihre Hilfe verweigern, richten die Briten Sie beide hin. War es nicht einer Ihrer republikanischen Führer, James Connolly, der auf einer Bahre zum Exekutionskommando getragen wurde? Da machen sie mit Finn keine Ausnahme.«
»Er ist doch noch ein Kind!«
»Ich bin nicht der Henker«, sagte Boyle in freundlichem Ton. »Ich sage Ihnen nur, wie es ist.«
»Was genau wollen Sie von mir, Mr Boyle?«, fragte Lydia aufgebracht.
»Ihre uneingeschränkte Kooperation.«
»Ich brauche Details.«
»Unsere Zeit ist eng bemessen, darum müssen wir alles schnell in die Wege leiten. Wir werden ein Cottage auf einem Privatgrundstück nördlich von Dublin beziehen. Es liegt abgelegen und ist wie geschaffen für unsere Zwecke. Wir brauchen ein paar Tage, um Ihre neue Identität durchzusprechen, damit Sie Ihre Rolle glaubhaft spielen können. Während dieser Zeit machen Sie und Ihr Begleiter sich miteinander vertraut. Dann schicken wir Sie auf die Reise. Ein Frachtschiff verlässt in sechs Tagen Belfast in Richtung Ostsee und Sankt Petersburg, und wir werden an Bord sein.«
»Wer ist mein Begleiter?«
»Ein russischer Armee-Offizier, ein ehemaliges Mitglied der Leibwache des Zaren, der aus einem Gefangenenlager der Bolschewisten entflohen ist. Und keine Sorge, Ihr Bruder bekommt während Ihrer Abwesenheit die beste Pflege. Wenn Sie zurückkehren, sind Sie beide frei und können das nächste Schiff nach Amerika nehmen.«
»Vorausgesetzt, ich kehre zurück.«
»Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass die Reise keine Gefahren birgt.«
Lydia betrachtete das Gesicht ihres schlafenden Bruders und seine gefesselte Hand. Schließlich hob sie den Blick und sagte wütend: »Sie sind ein gefühlloser, kaltherziger Scheißkerl, Mr Boyle!«
»Wollen Sie die Wahrheit wissen? Ich hatte Glück, dass die Briten zugestimmt haben. Seien Sie froh, dass Sie und Finn wenigstens eine Chance haben.«
»Zur Hölle mit Ihnen.« Lydia schickte sich an, ihm eine Ohrfeige zu verpassen, doch Boyle verfügte über die schnelle Reaktion eines Boxers und ergriff ihren Arm.
Er sah ihr in die Augen und erkannte die Qualen, die furchtbare Angst, und irgendetwas stimmte ihn milde, als er sie wieder losließ. »Ich gebe Ihnen eine Stunde, um über das Angebot nachzudenken. Anschließend kann ich nichts mehr für Sie tun.«
29. KAPITEL
London/Moskau
Es war ein erstaunlich kühler Junimorgen. Vater Doneski zündete gerade die Kerzen auf dem Altar in der Kirche des Heiligen Konstantin an, als er Schritte auf dem Gang hörte.
Er drehte sich um. Ein untersetzter Mann mit den groben Gesichtszügen eines Bauern musterte ihn mit hinterhältigem Blick. »Guten Morgen, Vater«, sagte er auf Russisch.
»Was wollen Sie?«, fragte Doneski zornig.
Der Mann grinste und schob seinen Hut ein Stück zurück. »Ein ruhiges Gespräch unter Freunden.«
Doneski blies die kleine Kerze aus, mit der er die anderen angezündet hatte. »Wir
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