Operation Romanow
unrasierter Landstreicher mit verschwommenem Blick in zerknitterter Kleidung und mit einem lumpigen Seesack so mit ihm sprach. Doch etwas in dem Ton des Mannes sagte ihm, dass es klug wäre, der Aufforderung nachzukommen.
Er rief die Sekretärin an, und kurz darauf schlurfte ein hübsches Mädchen mit kleinem Buckel in einem dicken, grauen Wollrock, einer schwarzen Strickjacke und flachen, braunen Schuhen den gepflasterten Weg vom Kreml auf ihn zu. Lidia Alexandrowna Fotjewa war Lenins Chefsekretärin. Sie kannte alle Geheimnisse des Roten Diktators und genoss sein absolutes Vertrauen.
Der Mann mit dem Seesack rief: »Lidia! Sagen Sie diesen Dummköpfen, sie sollen mich passieren lassen!«
»Ich verbürge mich für diesen Bürger, Genosse. Lassen Sie ihn eintreten«, sagte sie zu dem Wachsoldaten.
Als Lidia Fotjewa den Besucher zum Kreml führte, sprach sie mit ihm vertraulich wie mit einem alten Freund. »Lenin hat Ihr Telegramm gelesen und ungeduldig auf Ihre Ankunft gewartet. Wir sollten uns beeilen. Er hat um zehn Uhr eine wichtige Sitzung im Kriegsministerium.«
»Tun Sie sich selbst einen Gefallen und sagen Sie Lenins Sitzung ab, Lidia.«
»Wie bitte?«
»Sobald er meine Nachrichten hört, wird er nirgendwo mehr hingehen.«
Zwei Meilen entfernt stieg Jakow im Arbat, einem bekannten Moskauer Stadtviertel, aus dem Fiat-Lastwagen.
Soba saß auf dem Fahrersitz. »Komm doch mit zu uns nach Hause. Dann siehst du deine Tochter auch einmal. Meine Frau kann für uns alle etwas kochen.«
»Dafür ist keine Zeit. Ich muss in einer Stunde im Kreml sein.«
»Du musst dir Zeit nehmen, wenn es um Kinder geht, Leonid! Weißt du, warum Trotzki dich in den Kreml gerufen hat?«
»Darüber mache ich mir erst Gedanken, wenn ich da bin.« Jakow hob das in braunes Papier eingewickelte Paket vom Boden des Lastwagens auf und drückte es Soba in die Hand. »Ich habe eine Aufgabe für dich. Überleg dir eine andere Möglichkeit, Nina Andrew die Lebensmittel und die Kleidung zukommen zu lassen.«
Dann nahm er eine prall mit Rubel gefüllte Lederbörse aus der Tasche und legte sie auf den Beifahrersitz. »Sie braucht Medikamente für das Kind. Solche Dinge bekommt man heutzutage nur auf dem Schwarzmarkt, und sie sind teuer.«
»Sie hat deine Hilfe doch abgelehnt.«
»Versuch es über den Priester in ihrem Viertel oder den Arzt, der das Kind behandelt. Sie sollen sagen, dass sie ihr in ihrer Notlage helfen möchten. Es muss glaubwürdig klingen. Sie soll keinen Verdacht schöpfen, dass die Hilfe von mir kommt.«
Es war zwei Uhr, und die Kinder strömten auf den Schulhof. Einige der jüngeren wurden von ihren Müttern abgeholt.
Jakow stellte sich an den Maschendrahtzaun.
Das dunkelhaarige Mädchen verließ kurz darauf die Schule. Es wurde bald sechs und trug ein verschlissenes blaues Kleid und feste Lederschuhe. Es war ein ganz normales Mädchen mit Zöpfen, aber seine großen, ausdrucksstarken Augen hatte es von seiner Mutter geerbt, und sie verliehen dem Kind einen unglaublich unschuldigen Blick.
Seit dem ersten Tag, als er das Neugeborene in den Armen gehalten hatte, war er gerührt, wenn er seine Tochter ansah. Jakow hatte sie nach seiner verstorbenen Schwester Katerina benannt, und nun, da Stanislaw tot war, schien sie seine einzige Verbindung zur richtigen Welt zu sein.
Katerinas Blick glitt ängstlich über die Köpfe der Menge, bis sie Sobas Frau entdeckte, eine lächelnde Bäuerin mit dickem Busen. Sie schloss Jakows Tochter in die Arme, drückte sie an sich und küsste sie. Dann nahm sie Katerina an die Hand und verließ mit ihr den Schulhof. Die Kleine hüpfte glücklich neben ihr her.
Jakow spürte das übermächtige Bedürfnis, seiner Tochter zu folgen, sie fest zu umarmen, zu küssen und nicht mehr loszulassen. Er sehnte sich danach, ihr kindliches Lachen zu hören und das Strahlen in ihren großen, unschuldigen Augen zu beobachten, und er kämpfte verzweifelt gegen das Verlangen an, den beiden hinterherzulaufen.
Auf ihn wartete die Arbeit für die Partei. Persönliche Belange kamen an zweiter Stelle.
»Eine Revolution ist für alle Menschen schwer. Ohne Opfer und Leid kann sie nicht gewonnen werden.«
Jakow erinnerte sich an Ninas Erwiderung. »Und welche Opfer bringst du, Leonid?«
Als Katerina fröhlich davonging, dachte er über die Antwort auf die Frage nach. Eine ganze Weile stand Jakow am Zaun und sah seiner Tochter hinterher. Als seine Augen feucht wurden, drehte er sich um und kehrte zum
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