Operation Romanow
gezwungen war, die Frau zu erstechen.
An diesem Morgen zog er einen Holzkarren hinter sich her, dessen Räder über die gepflasterten Seitengassen sprangen. Er trug einen einfachen Arbeitskittel aus Baumwolle, eine abgetragene Mütze, eine grobe Wollhose und abgestoßene Stiefel. Mit dem vollen Bart und den fettigen Haaren sah er aus wie ein russischer Bauer.
Den Handkarren hatte er in einem Krämerladen im Marktviertel gebraucht gekauft. Ein Rad war beschädigt und einer der Griffe locker, aber für acht Rubel hatte der Mann ihm noch einen Hammer und Nägel dazugegeben. Damit war das Geschäft besiegelt.
Sorg hatte den Karren repariert, ein paar Holzstücke und rote Ziegelsteine hineingelegt und seinen durchgescheuerten schwarzen Mantel über die Griffe gehängt. Ein Mann mit einem Handkarren war ein Mann, der etwas vorhatte, einer dieser fleißigen Arbeiter, von denen es in den Straßen von Jekaterinburg wimmelte. Unter den Holzstücken versteckte Sorg den Revolver, den er Rawitsch, dem Vermieter, abgenommen hatte.
Innerhalb eines Jahres war Jekaterinburg von den Weißen besetzt, dann von den Roten überrannt, dann wieder von den Weißen erobert und nun in erbitterten, blutigen Kämpfen von den Roten zurückerobert worden. Die geschäftige sibirische Stadt an der Grenze zu Asien war in Aufruhr. In den Straßen drängten sich Flüchtlinge, arme wie reiche, die es eilig gehabt hatten, aus Moskau und Sankt Petersburg zu fliehen.
Die Menschen sahen erbärmlich aus. Die elektrischen Straßenbahnen waren überfüllt, in den engen Seitengassen war es furchtbar laut, und die mit Dreck verstopften Rinnsteine stanken erbärmlich. Die Bevölkerung war von über einhunderttausend um fast die Hälfte angestiegen, und Panik erfüllte die Stadt.
Das industrielle Kernland von Sibirien mit ergiebigen Minen, in denen Platin, Gold und wertvolle Metalle abgebaut wurden, stand unter ständiger Bewachung. Jeden Abend kündigten die Sirenen die Ausgangssperre an, die bis fünf Uhr morgens andauerte.
Sorg zog seinen Karren an den Holzhäusern der Arbeiterklasse vorbei und gelangte zu einem Labyrinth kleiner Seitenstraßen mit zahlreichen Mietskasernen, in denen ebenfalls Arbeiter wohnten. Der Gestank des Mülls, der überall auf der Straße lag, stieg ihm in die Nase. Einige Stuckfassaden der Herrenhäuser, Geschäfte und Kirchen auf dem über fünf Kilometer langen und mit Linden gesäumten Wosnessenski-Prospekt wiesen die Spuren starken Beschusses auf.
Seit Kurzem verstieß es in Russland gegen das Gesetz, Straßenkarten zu verkaufen. Die Roten befürchteten, sie könnten ausländischen Spionen nützlich sein. Schon allein der Besitz war strafbar, daher prägte sich Sorg die Lage der Straßen, Gassen und Brücken ein.
Besonderes Interesse brachte er den Hotels, Herbergen und Kasernen entgegen, in denen die rastlosen Truppen der Roten Armee Quartier bezogen hatten. Die Idioten machten es ihm leicht. Überall, wo sie sich eingenistet hatten, flatterten rote Fahnen. Nachdem sich Sorg nun seit ein paar Wochen in Jekaterinburg aufhielt, kannte er jede noch so kleine Gasse.
In einer Seitenstraße bot sich ihm ein grotesker Anblick: Fünf Leichen lagen zusammengesunken vor der Mauer des Geschäftes eines Getreidehändlers. Offenbar war hier eine ganze Familie – Vater, Mutter und ihre drei halbwüchsigen Kinder – erschossen worden. Ihre Leichen waren von Kugeln durchsiebt, und jetzt lagen sie dort und verrotteten. Die über den toten Körpern auf die Mauer geschmierte Botschaft lautete: »Diese Verräter wollten die Revolution sabotieren! Alle Verräter werden hingerichtet!«
Vor der Paranoia und dem Gemetzel der Roten war niemand sicher. Und dennoch waren jedes Hotel und jede Herberge in Jekaterinburg vollkommen überfüllt.
Als Sorg Ende Mai hier angekommen war, hatte er eine verfallene Herberge am Rande des Marktviertels gefunden, von deren oberen Balkonen Wäsche herunterhing. Der große Garten hinter dem Haus grenzte an einen dichten Wald, und das war perfekt, falls er einmal überstürzt fliehen musste. Sorg kaufte sich ein stabiles Schloss und eine Kette und befestigte seinen Handkarren jeden Abend an einem Abflussrohr auf dem Hinterhof.
Er teilte sich mit drei anderen Männern ein verwahrlostes Zimmer, in welchem für jeden ein einfaches Holzbett stand. In dem verdreckten Waschraum mit einer Toilette auf dem Gang stand eine abgesplitterte Emaillewanne, deren Wasserhahn nur selten funktionierte.
Zwei seiner
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