Operation Schneewolf - Meade, G: Operation Schneewolf - Snow Wolf
sollten Sie nicht rechnen, Wally.«
Der Mann ging an seinen Tisch zurück und setzte sich neben eine fette Frau, die ständig zu ihnen herüberstarrte. Als Anna sich unauffällig umschaute, bemerkte sie, daß die Leute an den Nachbartischen sie ebenfalls beäugten.
»Wer war das?« fragte Anna.
»Der Richter.«
»Warum starrt seine Frau mich so an?«
Slanski lachte. »Anna, in einer Kleinstadt sind alle neugierig. Die Leute merken sogar, wenn Sie Ihren Scheitel plötzlich auf der anderen Seite tragen.« Er lächelte sie an. »Außerdem sehen Sie heute ziemlich hübsch aus.«
Sie warf ihm einen Blick zu und merkte, daß er sie betrachtete. Sie trug das Haar offen, hatte Lippenstift und Make-up aufgelegt. Und sie hatte sich in das schwarze Kleid gehüllt, das sie auch an ihrem ersten Abend in New York getragen hatte.
»Gehen Sie hier mit Ihren Freundinnen hin?«
Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Wohl kaum. Ich bin erst das zweite Mal hier. Erzählen Sie mir etwas von sich, Anna.«
»Nein«, sagte sie. »Erst erzählen Sie mir etwas von sich.«
Er wirkte ein wenig verblüfft, aber auch ein bißchen amüsiert, und Anna sah sich ermutigt, nachzusetzen, und fragte ihn, wie er nach Amerika gekommen sei.
Er spielte mit dem Glas und schien zu überlegen, wieviel er ihr erzählen sollte. Als er endlich die Stimme erhob, blickte er Anna nicht an.
»Meine Familie lebte in einem Dorf bei Smolensk. Als meine Eltern starben, wurden mein jüngerer Bruder, meine Schwester und ich in ein Waisenhaus in Moskau gesteckt. Ich war zwölf. Ich haßte dieses Heim. Die Erzieher waren kalt und herzlos. Also schmiedete ich einen Fluchtplan. Ein Verwandter meines Vaters wohnte in Leningrad. Ich dachte, er könnte uns aufnehmen. Unglücklicherweise wurden wirauf der Flucht erwischt. Aber ich hab’s geschafft, allein zu entkommen, und bin auf einen Zug Richtung Leningrad gestiegen. Als ich dort ankam, war mein Verwandter alles andere als erfreut und wollte mich ausliefern. Ich streifte durch die Straßen, bis ich plötzlich am Hafen stand und ein Schiff sah. Wohin es fuhr, wußte ich nicht, und ich glaube, es war mir auch ziemlich egal. Aber eins war klar: Dieses Schiff hatte mir das Schicksal geschickt.« Er lächelte kurz. »Sie kennen doch das alte russische Sprichwort: ›Die Saat von dem, was wir tun, ist in uns angelegt.‹ Also kletterte ich heimlich an Bord.«
»Was ist dann passiert?«
»Zwei Wochen später stand ich wieder in einem Hafen, diesmal in Boston. Ich fror und war hungrig.«
»Für einen Jungen war das eine bemerkenswerte Leistung.«
Er schüttelte den Kopf. »Das dachte ich auch, aber als wir in Boston anlegten, waren noch vier weitere blinde Passagiere an Bord. Damals konnte man noch viel einfacher entkommen als heute.«
»Wie sind Sie bei Wasili gelandet?«
Slanski lächelte. »Ich erwies mich als ein schwieriges Kind, nachdem ich in Boston eingetroffen war. Man hat mich in ein Waisenhaus gesteckt, wie in Moskau, nur war das Essen hier besser und die Menschen freundlicher. Aber es nützte nichts. Und dann kam jemand auf die schlaue Idee, mich hierherzuschicken.«
»Wasili ist ein guter Mensch.«
»Ja, er verkörpert das beste, das unser Land zu bieten hat. Er ist herzensgut und freundlich.«
»Was ist mit Ihren Geschwistern passiert?«
Er antwortete nicht, und als Anna ihn forschend anschaute, bemerkte sie zum ersten Mal so etwas wie eine Gefühlsregung auf seinem Gesicht. Ein schmerzlicher Ausdruck huschte über seine Miene, doch er schien ihn unterdrücken zu wollen, und als er sich vorbeugte, lächelte er wieder.
»Erst sind Sie dran.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Mögen Sie Massey?«
Die Frage überraschte Anna. Sie zögerte und schaute weg. Als sie den Blick wieder auf Slanski richtete, sagte sie: »Er war der erste Mann, den ich nach meiner Flucht aus Rußland getroffen habe und der es gut mit mir meinte. Der erste aufrichtige und sorgende Mensch, den ich seit langer Zeit kennengelernt hatte. Er hat mir vertraut und mir geholfen. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte man mich nach Rußland zurückgeschickt. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein.«
»Waren Sie jemals verheiratet, Anna?«
Plötzlich verspürte sie das Bedürfnis, ihm die Wahrheit zu erzählen. Trotzdem fragte sie: »Müssen wir darüber reden?«
»Nur, wenn Sie wollen.«
»Dann möchte ich es lieber nicht.« Sie wechselte das Thema. »Trauen Sie Popow?«
Er lachte. »Natürlich.«
»Die Ukrainer waren die
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