Operation Schneewolf - Meade, G: Operation Schneewolf - Snow Wolf
blickte Lukin wie benommen dieses Bauwerk an.
Plötzlich merkte er, wie ihm Tränen in die Augen stiegen und ein quälendes Gefühl sich in seinem Inneren breitmachte. Er konnte kaum glauben, was Pascha ihm erzählt hatte.
Der Mann und die Frau auf dem Foto waren seine Eltern.
Das kleine Mädchen war seine Schwester.
Und Alex Slanski war sein Bruder Mischa.
Lukins richtiger Name lautete Petr Tarakanow.
Doch nachdem er die zweite fehlende Seite aus der Akte gelesen hatte, wußte er, daß es stimmte. Es schüttelte ihn, unddie Wut, die in ihm aufstieg, war beinahe unerträglich. Er stürzte das vierte Glas Wodka in einem Zug herunter und schenkte sich das nächste ein.
Sein Verstand trübte sich, und dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Er forschte in seinem Gedächtnis nach Erinnerungen aus seiner Vergangenheit; Erinnerungen, die er in dem Moskauer Waisenhaus hatte begraben müssen. Er zermarterte sich das Hirn, bis er Kopfschmerzen bekam. Früher hatte er stets zu vergessen versucht; jetzt konnte er nichts anderes tun, als sich zu erinnern.
An dem Tag, als er Anna Chorjowas Tochter aus dem Waisenhaus holen wollte und die Gesichter der jungen Bengel an dem Fenster sah, war es ihm kalt über den Rücken gelaufen. Und zwar deshalb, weil er seine eigene Vergangenheit gesehen hatte. Er erinnerte sich daran, wie er selbst immer sehnsüchtig aus dem Fenster geschaut hatte, nachdem sein Bruder weggelaufen war. Er hatte die Hoffnung nie aufgegeben. Er hatte gehofft, daß Mischa zurückkommen würde. Gehofft, daß Mischa noch am Leben war. Aber man hatte ihm erzählt, daß Mischa tot sei.
Er war nicht tot.
Er lebte.
Man hatte ihn angelogen. Und Katja auch.
Lukin wurde von seinen Erinnerungen dermaßen überwältigt, daß er das Gefühl hatte, in seinem Hirn müßte ein Blutgefäß platzen.
Er hatte nur noch eine vage Erinnerung an den Mann, der sein Vater gewesen war. An seine Mutter konnte er sich besser erinnern. Lukin war damals noch ein kleiner Junge gewesen. Mutter ging mit ihm durch einen Wald. Es war Sommer. Sie pflückten Blumen. Mit der einen Hand hielt sie ihn fest, die andere hielt seinen Bruder. Die Frau lächelte ihn an …
Denk nach!
Erinnere dich!
Dann sah er das Gesicht seines Bruders ganz deutlich vor sich, als hätte sich in seinem Inneren ein Vorhang gehoben. Es war dasselbe Gesicht wie auf dem Foto.
Slanski.
Er wußte, daß ihm an Slanskis Gesicht schon am Kontrollpunktin Tallinn irgend etwas merkwürdig vertraut vorgekommen war.
Ein Nebel lichtete sich. Er erinnerte sich an den Tag, als er vor den Wölfen fortgelaufen war und sich in die Arme seines Vaters geflüchtet hatte.
»Wölfe, Papa!« hatte Lukin gerufen.
»Pah! Der macht sich gleich in die Hose!« sagte sein Bruder Mischa lachend.
»Ach ja? Und warum bist du dann auch gerannt?«
Mischa lächelte. »Deinetwegen, Brüderchen. Ich konnte dich nicht aufhalten.«
Sein Vater brachte sie in das warme, sichere Haus, und ihre Mutter schimpfte mit ihnen. Anschließend, in derselben Nacht, lag er im Bett, und der Sturm kam, und er hörte wieder die Wölfe, die im Wald heulten. Mischas Stimme ertönte im dunklen Zimmer. »Hast du Angst?«
Blitze zuckten, und Donner grollte draußen vor dem Haus. Da hatte Lukin angefangen zu weinen, aus Angst vor dem Lärm und dem grellen Licht und den wilden Tieren da draußen in den Wäldern, die dem Sturm trotzten.
»Hab keine Angst, Brüderchen. Mischa wird dich beschützen. Komm, schlaf bei mir.«
Immer noch weinend, hatte er sich neben seinen Bruder gekuschelt, und Mischa hatte ihn in die Arme genommen und an sich gezogen.
»Nicht weinen, Petja. Mischa wird dich immer beschützen. Wenn jemand dir weh tun will, mach’ ich ihn tot. Hörst du, Brüderchen? Und wenn Mama ihr Baby bekommt, wird Mischa das Baby auch beschützen.«
Und die ganze Nacht hatte Mischa ihn festgehalten, ihn gewärmt, ihm Sicherheit gegeben und ihn getröstet.
Mischa …
»Es überrascht mich, daß Sie die Muße finden, sich zu entspannen. Genießen Sie es, solange Sie können, Lukin.«
Er zuckte zusammen, als die Stimme hinter ihm ertönte, und fuhr herum. Lukin war sich nicht einmal der Tränen in seinen Augen bewußt, als er Romulka anstarrte, der mit einem spöttischen Grinsen auf dem Gesicht und einem Glas Brandy in der Hand hinter ihm stand.
Lukin wischte sich das Gesicht ab und drehte sich wieder um. »Gehen Sie zum Teufel.«
Romulka verzog das Gesicht. »Na, na, so spricht man aber nicht
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