Operation Schneewolf - Meade, G: Operation Schneewolf - Snow Wolf
erfahrener Mann, der die Sowjets viel besser kennt als wir. Er könnte recht haben.«
»Das glaube ich nicht.«
»Moskau könnte uns zum Narren halten, Jake. Das haben sie schon früher getan. Und was sie auch mit dem Mädchen vorhaben, dieses ganze Getöse, daß wir sie zu ihnen zurückschicken sollen, könnte ebenfalls zu dem Spiel gehören, damit wir ihre Geschichte schlucken.«
»Das glaube ich auch nicht.«
Canning zuckte mit den Schultern und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. »Gut. Was schlagen Sie dann vor?«
»Besorgen Sie mir einen Termin beim Botschafter. Ich möchte mit ihm reden, bevor er eine endgültige Entscheidung trifft. Und versuchen Sie, diesen Romulka so lange wie möglich hinzuhalten, bevor er Anna verhört. Ich würde sie gern vorher noch einmal sprechen. Nicht zu einem Verhör – nur ein freundliches Gespräch.«
Canning winkte dem Kellner und bat um die Rechnung.Damit deutete er an, daß das Gespräch vorbei war, noch bevor er Massey anschaute.
»Haben Sie einen besonderen Grund dafür, daß Sie noch einmal mit der Frau sprechen wollen?«
»Nach allem, was sie durchgemacht hat, muß sie einfach mit jemandem reden.«
Die Privatklinik lag am Stadtrand von Helsinki.
Es war ein altes, großes Krankenhaus, das auf einem Hügel thronte, umgeben von hohen Steinmauern. Das Gelände umfaßte mehrere Hektar. Dazu gehörte ein Birkenwäldchen und ein kleiner See, der noch zugefroren war. An der Mauer standen Bänke.
Man hatte Anna Chorjowa ein Einzelzimmer im dritten Stock gegeben. Von dort aus sah sie die Stadt und die bunten Holzhäuser, die wie Farbkleckse an den Stränden und auf den Inseln leuchteten. Vor ihrem Zimmer saß Tag und Nacht ein Wächter. Es waren schweigsame, aufmerksame Männer, die sie fast nie ansprachen.
In einer Ecke stand ein Tisch mit einer blauen Blumenvase, in der Winterblumen blühten. Auf einem Regal am Fenster stand ein Radio. Am ersten Tag hatte Anna mit der Wählscheibe gespielt und sich Sendungen und Musik in einem Dutzend Sprachen und aus Städten angehört, die sie nur vom Lesen kannte: London, Wien, Rom, Kairo.
An diesem Nachmittag hatte eine Schwester ihr beim Baden geholfen, ihre schmutzigen Kleider mitgenommen und ihr anschließend frische Sachen gebracht. Die Wunde an ihrer Seite pochte nur noch dumpf. Später war sie auf dem Gelände des Krankenhauses spazierengegangen. Anna befolgte Masseys Instruktionen und hielt sich von den anderen Patienten fern, obwohl sie sich danach sehnte, die Welt außerhalb der Mauern zu sehen und ihre neugewonnene Freiheit zu erleben. Aber es sollte nicht sein; also mußte sie sich mit kleinen Triumphen bescheiden, Musik hören und die Zeitung auf englisch lesen.
Am ersten Abend war ein Arzt zur Visite gekommen.
Er war jung, Mitte Dreißig, und hatte die mitfühlendenAugen eines guten Zuhörers. Er sprach leise in Russisch mit ihr und erklärte, daß er Psychiater sei. Die Fragen, die er stellte, betrafen ihre Vergangenheit, und sie wiederholte, was sie Massey erzählt hatte. Der Arzt schien vor allem an der Behandlung im Straflager interessiert zu sein. Doch als er versucht hatte, sie über Iwan und Sascha auszufragen, hatte sie sich abgeschottet.
Am nächsten Tag hatte sie das Radio eingestellt. Sie kannte die leise, klassische Musik. Es waren Harmonien von Dvorak. Diese Musik hatte Iwan geliebt. Anna mußte an ihn und Sascha denken. Sie hatte das Gefühl, in ein schwarzes Loch zu fallen, und fühlte sich plötzlich vollkommen einsam und allein.
Als sie zum Fenster ging, um dieses beunruhigende Gefühl abzuschütteln, sah sie ein junges Pärchen durch das Tor des Krankenhauses kommen.
Es war Besuchszeit. Ein kleines Mädchen ging in seiner Mitte. Sie konnte nicht älter als zwei oder drei sein, trug einen blauen Mantel und einen roten Schal. Sie hatte eine Wollkapuze heruntergezogen, und ihre Hände steckten in Fäustlingen.
Anna starrte lange in das Gesicht des Mädchens, bis der Mann sie in die Arme nahm und alle drei im Krankenhaus verschwanden.
Als Anna sich vom Fenster abwandte, stellte sie die Musik ab, legte sich aufs Bett und schloß die Augen. Das Schluchzen ließ ihren Körper beben, bis sie das Gefühl hatte, nicht mehr weinen zu können.
Früher oder später muß es ja aufhören, sagte sie sich.
Sie konnte schließlich nicht ewig mit der Qual leben.
Am dritten Morgen stattete Massey ihr einen Besuch ab. Er schlug ihr einen Spaziergang um den See vor, wo sie in Ruhe miteinander reden
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